Die Zeit braucht die Uhren nicht
Mit seinem der Musik entlehnten Begriff wirft der Titel Variationen über ein Thema von Silfverstolpe des schwedisschen Autors Lars Gustafsson gleich die Frage auf, wie musikalische Variationen in der Literatur vorgenommen werden könnten, genauer: in den Gedichten, die der Autor uns vorlegt. Er selbst schreibt dazu in seinem Nachwort:
Natürlich ist das Vorbild für diesen Band das Variationenwerk in der Musik. Ich experimentiere mich voran. Ich hoffe, es klingt nicht allzu vermessen, aber das Vorbild ist tatsächlich Johann Sebastian Bach. Die Idee eines Variationenwerks über ein kurzes Thema ist ein bisschen von den Goldbergvariationen inspiriert. Doch hat die Idee großer Meister wie Bach, von Tonart zu Tonart weiterzugehen, kein durchführbares Gegenstück in der Lyrik. Dennoch kann man in gewissem Grad mit Gefühlslagen so experimentieren, als wären sie Tonarten.
Wie vergleicht man den Wechsel von Tonarten mit dem von Gefühlslagen, um dabei ein lyrisches Gegenstück zu Johann Sebastian Bachs Goldbergvariationen zu schaffen? Das Nachdenken über diese Frage kann eine produktive Lektüre von Gustafssons Gedichtband, der die Zeit zum Thema hat, vorbereiten. Machen wir uns klar: Eine Tonart ist in der abendländischen Kultur häufig mit bestimmten Rezeptionshorizonten verbunden. Dur-Tonarten werden hier in der Regel als heiter, klar und hell wahrgenommen, Moll-Tonarten hingegen als melancholisch und düster. Die Wahrnehmung ist also von einer tradierten musikalischen Konvention in besonderer Weise mitbestimmt; im kollektiven Gedächtnis verankert ist ein allgemeiner Konsens darüber, wie man eine bestimmte Tonart hört. Diese Überlegung ist übertragbar auf Gefühle wie Wut, Freude oder Trauer – auch hier gibt es eine gewisse Einigkeit darüber, wie diese Gefühle sich zueinander verhalten, ineinander übergehen oder ‚moduliert‘ werden können. Doch wie manifestieren sich Gefühlsmodulationen Gustafssohns lyrischer Sprache?
In Gedichten mit Gefühlen wie mit Tonarten zu experimentieren, bedeutet immer einen Sprung aus dem Nichtsprachlichen in Sprache. Will die Sprache dafür mit bestimmten Gefühlen traditionell Verbundenes nicht nur reproduzieren, sondern in der Affirmation des Tradierten und Konventionellen etwas Neues erschaffen, braucht sie Spielerische und das Experiment, die Gustafsson benennt. Sie eröffnen den Raum seiner Lyrik. Man vergegenwärtige sich das Spannungsfeld von Konvention und Innovation oder sogar den Bruch mit der Konvention, man vergegenwärtige sich den Umstand, dass ‚Gefühlstonarten‘ zunächst nonverbal sind, ehe sie in Poesie verwandelt werden. Beides schärft die Sinne für die Musikalität des Gedichtbandes.
Wie realisiert sich dieses ästhetische Programm? Das „Thema von Silfverstolpe“, dessen „Variationen“ der Titel von Gustafssons Lyrikband ankündigt, bildet das Motto und lautet:
Es war die Zeit, in welcher jede Stunde / noch eigne Kraft besaß, die zu erobern war.
Entnommen hat Gustafsson, wie der Band ausweist, diese Verse dem Gedicht „Slut på sommarlovet“, auf Deutsch „Ende der Sommerferien“, des schwedischen Dichters Gunnar Mascoll Silfverstolpe (1893-1942) der ein Vertreter des Symbolismus war.
Indem sich die Verse aber nicht nur durch ihr Tempus, sondern auch durch den Titel eindeutig der Vergangenheit zuordnen – es ist ja vom „Ende der Sommerferien“ die Rede – wird auch gesagt, dass diese Zukunftsgewandtheit und Zuversicht für das sprechende Ich der Verse in Silverstolpes Gedichten womöglich nicht mehr greif- und verfügbar sind, dass das ehemals Erlebte und als das Eigne Empfundene fremd geworden ist. Das Moment des Unwiederbringlichen, des Vergangenen und Verlorenen steht in diesen Versen gegen das Ungestüme und Vorwärtsdrängende. Zeit ist eben nicht gleich Zeit. Die Frage „Stunden, was wart ihr?“, die in vielen Gedichten des Bandes gestellt wird, erweist sich als ein Unterthema.
Die Ambivalenz des von Gustafsson zugrunde gelegten Themas Silfverstolpes und die beschriebene Spannung, die aus unterschiedlichen Zeitwahrnehmungen resultiert, prägt auch die Gliederung des Bandes: Die Überschrift von Kapitel I, „Die Bruderschaft der Stunde“, begreift Zeit als etwas Verbündetes, Verlässliches und grundsätzlich dem sprechenden Ich – und damit auch den Lesenden – Zugewandtes. Ein Gedicht aus dem ersten Kapitel kann das eindrücklich verdeutlichen:
Stunden, was wart Ihr? Augenzeugen?
Räum deinen Stabilbaukasten vom Küchentisch,
damit wir irgendwann essen können!
Holzstapel. Ein Gefühl von niedrigem Himmel,
der wie Blei auf hässlichen Dreigeschosshäusern lastet.
Weit dahinten in der Kindheit
herrscht ein so grauer und trostloser
Winternachmittag
(die Lampen gerade angezündet),
dass er in Wirklichkeit niemals enden kann.”
Die erinnerte Zeit dehnt sich in diesen Zeilen ins Unendliche aus, die Art und Weise, in der sie vom sprechenden Ich wahrgenommen wird, erzeugt in seiner Langeweile das trügerische Gefühl der angehaltenen Zeit, letztlich der Unsterblichkeit. Mit der Aufhebung des Empfindens der eigenen Sterblichkeit geht eine Aufhebung der metrischen Zeit einher. Als wäre für immer Nachmittag. Doch nicht nur ein Einfrieren der Zeit begegnet einem in diesen Gedichten, auch eine bestimmte Form von subjektiver Messbarkeit.
Man kennt Kulturen, in denen die Zeit sehr viel länger als in Europa nicht metrisch gemessen wurde. In Japan etwa war bis 1873 der Tag in zwölf koku unterteilt, sechs am Tage und sechs in der Nacht. Die koku war in ihrer Dauer anders als die Stunde variabel, also keine willkürliche Einheit, sondern Teil des jahreszeitlichen Rhythmus, der das Leben bestimmte.
Man kann sich bei dem Gedicht „Die Bruderschaft der Stunde. Japanische Samurai-Rüstungen in einer Ausstellung“, dem die Überschrift des ersten Bandkapitels entstammt, genau diese Form einer variabel messbaren Zeit vorstellen, die nicht objektivierbar gemessen wird, sondern am Verlauf des eigenen Lebens:
Ja, genau das wart ihr:
Rüstungen, verlassen von ihren Kriegern.
Ja, Augenblicke waren diese Krieger,
jäh ließen sie ihre Gestalt zurück,
die, unbewacht, mit Leere sich ganz füllte.
Und dann saß jeder augenlos und leer
auf seiner eignen schwarzen Lackholzkiste,
wartend auf seine eigne Wiederkehr.
Bruderschaft der Stunde. Krieger.
Und jeder der Gefangene einer Stunde
aus seinem Leben. Wie seltsam ähnlich,
weil sie alle warteten.
Wartend. Ein Schwertkämpfer, wohlbewaffnet,
der vielleicht aufspringt im nächsten Augenblick.
Die Überschrift des Kapitels II, „Inventionen“, wirkt wie ein Einwand gegen die Vorstellung von der Zeit als etwas Meßbarem. Im zweiten Kapitel heißt es in dem Gedicht „Mit dem Rücken nach Osten“:
Das Gewitter verzog sich über den See, grummelte
vorwurfsvoll, doch kraftloser nun, nur noch in sich hinein,
und alles wurde plötzlich wieder klar und warm.
Ein überraschender Ausbruch von Normalität
in einer Landschaft, die den ganzen Morgen verrücktspielte.
Jetzt sieht man, dass die Schwalben fort sind. Der August
ist da, und wir sind in der Geschichte sehr weit gekommen.
Wie konnten wir bis hierher gelangen?
Haben wir vielleicht ein Kapitel übersprungen?
Haben wir mit allzu ungeduldigen Fingern
mehrere Seiten auf einmal umgeblättert?
Irgendwo in der Mitte, ja, wenn irgendwo,
dann genau dort. In der Mitte.
Und gerade in diesem Buch kann man nicht
zurückblättern. Die Karte, die man ausgespielt hat, liegt.
Ein ungelesenes Kapitel ist und bleibt ungelesen”
„Der August ist da“, wo im Kapitel zuvor mit einer Anspielung auf T. S. Eliot doch eben noch zu lesen stand:
April, nicht der grausamste,
nein, der klügste Monat.
Mit diesem trockenen Braun im Erdboden,
wie ein Stück von Alban Berg
pulsatilla vulgaris die einzige Blume
in all der Dürre,
und genauso war natürlich meine Jugend:
ein brauner Wald mit dieser einzigen Blume.“
Es ist im Band, dessen Gedichte motivisch eng aufeinander verweisen, ein Verstreichen der Zeit mitzuverfolgen. Wo eben noch April herrschte, dem Eliots Verse aus The Waste Land Grausamkeit attestieren:
April is the cruelest month, breeding
Lilacs out of the dead land, mixing
Memory and desire, stirring
Dull roots with spring rain.
ordnet Gustafsson in engster Anlehnung an Eliots Verse dem April Klugheit zu.
Mit dem August als dem Monat, der den Herbst einleitet, den Niedergang, den Verfall andeutet, steht dann das Ende bevor, vielleicht nur das Ende der Sommerferien, ein Ende jedoch gewiss. Es wird durch den Band einerseits ein Verstreichen der Zeit, dann wieder ein Sprung durch die Zeit dargestellt. Ein Junge, der eben noch laufen lernte, spielt plötzlich Cello. Und in den Zwischenzeiten zwischen Tag und Nacht, begegnet man den Toten, tauscht die Rollen mit ihnen:
Vier Uhr;
späte Nacht oder früher Morgen,
der Wind weht gegen das Haus,
die Türe schlägt,
in meinen Armen liegt auf einmal
eine seit Langem tote Freundin.
Mit dem Mund nah an ihrem Hals
spüre ich die Wärme der Lebenden,
spüre ich jetzt die Wärme,
die übrig bleibt.
Und einen Augenblick lang bin ich tot,
sie lebendig.
Der Gedichtband suspendiert so auch von den Gesetzen der erlebten Wirklichkeit zugunsten einer vorgestellten Welt, in der die Kunst, in diesem Fall die Sprache, Tote aufwecken könnte. In der Konzentration auf Erinnertes verwandelt sich die vergangene Welt in Sprache, verwandelt sich Sprache in eine Ahnung von Ewigkeit.
Die schöne, sorgfältige Übersetzung von Kristina Maidt-Zinke und Stephan Opitz trägt ihren Teil dazu bei, diesen Band in seiner Tiefe und Klarheit auch im Deutschen leuchten zu lassen und das Musikalische als das gerade nicht in Sprache Übersetzbare fassbar zu machen.
Anfang, Ding und Zukunft
(die der Untergang der Dinge ist)
bilden mancherlei Kreisläufe.
Und der Krähenschwarm rief:
Wir wissen es nicht.
Wir wissen nicht, was wir sind.
Wir wissen nichts von dem,
was ist oder was kommt.
Oder was den Unterschied macht.
Ein Vogelschrei ist sein eigener Sinn.