Kim Hyeson – Autobiographie des Todes
Kim Hyesoons Gedichtband Autobiographie des Todes wurde endlich ins Deutsche übersetzt. Der Band ist 2016 erstmals erschienen, jetzt fand sich ein Übersetzungsteam: Uljana Wolf und Sool Park. Dichterin und Kulturphilosoph meistern die Übertragung der für unsere Wahrnehmungsgewohnheiten teilweise befremdlichen Grammatik (zum Beispiel subjektloser koreanischer Sätze) in ein Werk, das auch im Deutschen funktioniert.
Die insgesamt 49 Texte bilden ein Analogon zu den 49 Tagen im buddhistischen Glauben, in denen die Seele nach dem Sterben umherirrt, bevor sie reinkarniert. Nun hat die Sprechende – die „Waise“, die „Namensvetterin“, der „Schmetterling“ im „Kleid aus Stein“, die „Mama des Todes“, die „Puppe“, die mit ihrem „blauen Haar“ spielt, während sie das „Wiegenlied“ summt – die Möglichkeit, 49-mal auszusagen. Vielleicht wurden durch das Sterben Hürden eingerissen, die einst vor dem Sprechen standen, nun kann eine „Autobiographie des Todes“ entstehen.
Der (blutrote) Faden: Ein (weibliches) Panoptikon aus lyrischen Narrativen, in denen ein multiples Zwitterwesen zwischen Leben und Tod, Realität und Geisterwelt sein Erkenntnisvermögen zur Schau stellt, um Missstand und Gewalt zu bezeugen: „Wie alle Toten vor dir siehst du das ganze Panorama vor dir aufgehen / Dein nach außen gewandter Blick wandert in die Weite, in dich hinein“ („Auf dem Weg zur Arbeit“). Das sich selbst adressierende Du, „winziger als ein Faden“ („Luftmenschen“), hebt die „kleinen Finger, fadendünn und durcheinander“ („Den Sarg niederlassen“). Es meldet sich zu Wort, trotzdem seine „mickrigen Brüste“, seine „mickrigen Augen“, sein „mickriger Kopf“ („Laufzauber des Todes“) mit dem „roten Zwangsvollstreckungssiegel“ („Tage“) versehen worden sind. Der düstere Sog der Gedichte entfaltet eine lyrische Gegenwelt, die ein denkendes und fühlendes Wesen beherbergt, das an der Unauflöslichkeit vielfältig (weiter-)bestehenden politischen, historischen und kulturell-gesellschaftlichen Unrechts verzweifelt und doch sprechen will: „Rhythmus geht nicht als Sein, sondern als Mangel“ („Gesicht des Rhythmus“).
Ein hermetischer und zugleich fesselnder Band, der Paradoxe nicht scheut und experimentell expressive Möglichkeiten eruiert – und dabei existenziellen Druck spürbar macht, der auf dem sprechenden Ich lastet. Und wie das bei posttraumatisch Belasteten vielleicht typisch ist: Die Sinnsuche verlässt nicht den Rahmen des symbolischen Ichbezugs. Sie können aus ihrem Selbstbezug nicht entweichen, sehen, wenn sie aufsehen: „das Meer, ein schwarzer Spiegel“ „(Ich will auf die Insel“).
Ein von Hyesoon gern genutztes Motiv ist das des erwähnten Fadens – er lädt zum Weiterspinnen ein, über dichtende Generationen und Geschlechter hinweg. Eine Schlinge legt sich gedanklich um Celans „Fadensonnen“ und zieht einen Hoffnungsausblick herbei: auf die „jenseits der [lebenden] Menschen“ noch singbaren „Lieder“. Hyesoons Gesänge übertönen den Verderb.
Eine ausführliche und mit viel Hintergrundwissen versehene Langrezension unserer Autorin Susanne Darabas zu Kim Hyesoons Buch findet sich auf www.lyrikkritik.de.