Echo: -lot und -raum
Zu Nachtgesang einer Zitrone von Klaus Anders
Schon im ersten Gedicht „Wolken“, Lindensüße, „Schwarzmilane […] in steigender Luft“, „Rauch“ und „Feuerschein“. Es ist vieles leicht, liegt sozusagen auf der Hand in den beziehungsreichen Gedichten, die der in Neuwied lebende Dichter, Übersetzer und Essayist Klaus Anders (geb. 1952) in seinem neunten Gedichtband Nachtgesang einer Zitrone als ersten Titel beim jüngst gegründeten Verlag Ginster Press des Filmemachers Frank Wierke vorgelegt hat.
Der gelernte Gärtner Anders weiß um das Zusammenspiel organischer Prozesse des Lebens und Sterbens; er macht dieses Wissen im übertragenen Sinn auch für seine Poesie fruchtbar, welche ebenso in weit gespannten literarischen Traditionszusammenhängen wie in naheliegender Alltagsgegenwärtigkeit verwurzelt ist. Vieles wird da aufgenommen und neu kontextualisiert — und doch ist es in besonderer Weise ein Flüchtiges, das bei näherem Hinsehen in solchen Zersetzungs- und Wachstumsvorgängen wahrzunehmen ist.
Um dessen Spuren aufzunehmen, kann bereits der als Motto im zitronengelben Vorsatzblatt zitierte Vers Pier Paolo Pasolinis, „Io sono una forza del Passato“, ein Hinweis sein, der — ein wenig falsch-richtiger übersetzt werden könnte als: „Ich klinge nach einer Kraft des Vorübergehens“?
Pasolinis lyrisches Ich begreift sich (im nächsten, von Anders nicht zitierten Vers) als einsamen, aber gehalten-haltenden Teil eines größeren Zusammenhangs. Nur in einer unfaßbar winzigen Jetzt-Passage öffnet und verbindet sich darin erneut etwas, eine Fuge, von Hand zu Hand, von Mund zu Mund: „Solo nella tradizione è il mio amore“ (Allein im Weiterreichen ist meine Liebe). Darin bewahrheitet sich zugleich ein Zusammenhalt und der dauerhaft dynamische Kern möglicher Veränderung.
Solche Kraftfelder ausgeweiteter Zeit-Räume, Themen und Formen — vom titellosen Dreizeiler bis zum 18-seitigen, vielstrophigen Langgedicht — werden in vier Kapiteln und 62 Gedichten von Klaus Anders poetisch vermessen. Nicht selten schaut ihrerseits dann die angeschaute, oft nur mit wenigen Worten angedeutete Realität „rätselhaft“ zurück aus ihren Koordinaten und Konstellationen: Zwischen dem heimischen Garten in der rheinischen Provinz und Frankfurt oder exotisch, gar phantastisch anmutenden Orten rund um den Globus spannen sich Alltagsszenen, Erinnerungslandschaften und wahnhafte Visionen auf, erotisch-elegisch aufgeladene Liebeslyrik, intertextuelle Anverwandlungen, unspektakuläre Nebensächlichkeiten — vor allem aber präzise Naturbeobachtungen von Pflanzen und Tieren, Erkundungen von Wetterphänomenen und Geologie, Jahreszeiten und nicht zuletzt von menschlichen Körpern, wie sie selten in dieser Intensität und Genauigkeit in der gegenwärtigen Dichtung zu finden sind. Es sind Natur-Gedichte in einem fundamentalen Sinn: Sie sind welthaltig — und so an der Welt bevestigt finden sie wortwörtlich ihren fragilen poetischen Halt:
Das Herz ist ein Springkraut:
berührst eine Kapsel kaum, da
reißt sie, schleudert die Samen aus.
Nicht unterhaltsam informierte, als ‚Nature Writing‘ etikettierte Bebilderungen sentimentaler Trivialitäten finden sich hier, sondern poietische Verortungsversuche im Lebensraum einer unmittelbar physischen Kommunikation und vielleicht einer physio-logischen Kommunion, einer umfassenden All-Gemeinschaft materieller Wirklichkeiten. Unaufgeregt stellen sie sich die/der Frage: „Wohin/ in all der Fremde soll ich gehen?“ Aus diesem Grund erforscht Klaus Anders mit sprachlicher Geduld die Verfasstheit humaner Existenz als unhintergehbarer Teilhabe und Hybris in verletzlichen und gefährdeten Naturzusammenhängen einer lebendigen, jedoch in ihrer Komplexität undurchschaubaren Um-Welt.
In den wörtlich angerufenen und beschriebenen Details tritt die Welt nicht als konstruiertes Ganzes entgegen, sondern wird in ihren individuierten Elementen benennbar und erkennbar. In dieser Zuwendung erst schält sich allmählich aus dem Besonderen das Allgemeine, aus dem Wahrgenommenen eine Erkenntnis, aus dem Frühlingsspaziergang ein Lebenssinnbild, eins durchs andere: „Und bin in einem fremden Wald./ Der Weg bald zu Ende“; die Vegetation, die Vögel, „(p)lötzlich sind alle still./ Nur Wind im Kamm der Fichtennadeln“. Keine „selva oscura“, kein „dunkler Wald“, und doch eine lakonische Referenz zu Dantes Eingangs-Vers: „Nell mezzo del cammin di nostra vita“ („In der Mitte des Weges unseres Lebens“). Vielleicht riefen bei genauerem Hinhören alle Wälder so zurück? Vielleicht geht es überhaupt um Auslassungen, darum, in der schweigsamen Notwendigkeit eines die Worte begleitenden, umgebenden, überhaupt erst erzeugenden Weißraums sinnliche, aisthetische Freiheit zu behaupten? Der mit dem Schreiben und jeder Lektüre hervorgebrachte poietische Bedeutungshof um die Dinge kann an deren physis nicht rühren — deutet eher schillernd hin und weist dabei zurück auf etwas Frei-Gelassenes, auf seine eigene mangelhafte Fülle:
Meine Sprache kennt niemand.
Die Worte, mit denen ich spreche,
sind nicht die meiner Sprache.
Wo kommt sie her?
Wie habe ich sie gelernt?
In ihr bewege ich mich
wie die Forelle im Wildbach.
Sie hat keine Zeichen,
geschwind wie das Licht
ist sie mein Auge im Dunkeln,
im Schweigen mein Ohr.
Das Barocke, gar Exaltierte, Bizarre ist Klaus Anders’ Sache nicht. Gleichwohl liegt seinen Gedichten eine ambivalente Grundspannung an (auch jener Glanz), welche Harmonie fern aller kitschig-einfältigen Gefühligkeit als Gegensätzliches und Widersprüchliches fügend integriert hat — und aushält. Seine Lyrik spielt Rollen, Perspektiven und Stimmlagen durch, spricht und erklingt durch Masken, reflektiert die dabei zutage tretenden Verse, prüft sie auf ihre Konkretion und Eigenheit an ihren (Fast-)Berührungspunkten zu Anschauungen hin, die zwischen fremd und eigen oszillieren. Mal als distanziert kommentierender Beobachter, mal als zugleich räsonierendes und skeptisch dabei im Gedankengang (und -klang) der Worte resonierendes lyrisches Ich, manchmal gar ohne jede grammatikalische Spur eines Subjekts – aber bis zu dieser Grenze hin zeigen sich fragile Subjektentwürfe, in deren Subtext die viel zitierte „transzendentale Obdachlosigkeit“ des Menschen ebenso wie die um ein Sprechen ringenden Unsagbarkeitstopoi genuin mystischer Erfahrungen eingeschrieben sind.
Bereits in den zuvor, seit 2003 vorgelegten insgesamt acht Lyrikbänden (viele davon in der Edition Rugerup) zeigt sich das lyrische Ich als schamanistisch-inspiriertes Medium und Stimmenimitator, nicht um des artistisch-affektierten Effektes willen, sondern als asketische Übung des Weltanschauens mit anderen Augen. Es wundert nicht, daß auch den aktuellen Band daoistische und zen-buddhistische, häufig durch eine paradoxe Struktur ausgezeichnete Grundmotive durchziehen, welche bei Anders ganz unexotisch operieren, nämlich exakt. Alles ist an der Oberfläche sichtbar und zugleich verborgen, fordert ein anderes Verstehen heraus, um so „das Nicht-Lernen zu lernen“, wie es der 64. Lehrsatz das Tao-Te-King formuliert, jene dem Alten Meister Laotse zugesprochene Spruchsammlung.
Die vermeintliche Kryptik des an Hölderlins „Nächtgesänge“ erinnernden Gedichtbandtitels Nachtgesang einer Zitrone entfaltet sich im gleichnamigen Gedicht als eine 11-teilige Stimmencollage freier Rhythmen und alkäischer Ode; eine glasige „zersplitterte[]“ Wintervision, changierend zwischen märchenhaft lautmalerischem Humor und Horror, zwischen „Esel“ und „Pick up, rostig/ klappriges Ding“, „gläsernem Park“, „Mosaik“, „Werkstatt“ und „den Trümmern der Abtei“ in Ferrara. Wo das ist? Wo die Zitrone? Liegt und duftet sie zedernartig und vergammelt dann „fein gepudert wie eine gut gepflegte Leiche“ unter einem Schimmelpilzpelz, wie die im Motto-Vers verborgenen, -wesenden (farblosen) Pflaumen von Sunna Dís Másdottir? (Vielleicht blaugrünweiß — das Penicillium digitatum, welches nach Sporenbildung graugrüne Oberflächen bildet, oder Penicillium italicum, dessen Oberfläche nach Sporenbildung eher blaugrün aussieht?) Singt sie so nächtlich? Im Dunkel absent präsent? Oder ist gar die Frucht die angesungene? „Die Wahrheit entspringt im Nimmerland.“
„Poesie ist die Kunst derer,/ die scheitern? Ist es nicht so?“
Vielleicht ist es nicht so. Vielmehr nehmen sich Anders’ Gedichte aus wie mikrotonale Versuche, der Welt etwas von ihrer Flüchtigkeit abzulauschen, indem sie umhertasten, sie ‚wieder-holen‘, feingliedrig eine nicht-lineare Partitur von Einzelstimmen entwerfen, an der sich ablesen läßt, wie ein vielschichtig verwobenes In-Stücke-Gehen erst die Voraussetzung für ein immer schon verlorenes Ganzes ist. Beim dichterischen Versuch, sich in der Fülle der symbolischen Bezüge zu orientieren, zeichnet sich eine poetische, nicht kartografierbare U-Topografie eines sprachlosen Kontinuums ab.
Die Gedichte sind kontemplative Hallräume aus sinnlichen Erfahrungen, Ideen, Erinnerungen, Ahnungen, die sich der Reflexion öffnen. Durchquert man sie, kann man sich keineswegs sicher sein, auch irgendwo anzukommen. Doch wo sich bei den intuitiven (Selbst-)Erkundungen der mit Sprache ausgekleideten, klingenden terrae incognitae Abgründe und Leeren andeuten, werden sie melancholisch benannt und hingenommen, werden dem Schweigen zart und hart poetische Meditationen lebendig prozessualen Auf-Gehens entgegengesetzt, die nichts suchen, aber etwas finden, das gering ist, unbedeutend, nicht näher bestimmt, aber vorübergehend da. Wie in „Tom Bombadils Wald“, „[…] dem ich folge/ und singe, der einfach geht und kein Ziel hat/ und findet, was er findet.“ In solcher Absichtslosigkeit, vielleicht auch im Daneben-Sehen und -Horchen scheint eine ethische Dimension auf, eine, die auch im ästhetisch vermeintlich zweck- und zielfreien Spiel nach dem Tun und Lassen, nach Haltung fragt.
Gedichte sind, indem sie nicht nur das in ihnen Angesprochene, sondern auch sich selbst als Sprache reflektieren, Echolote und Echoräume ineins; übersetzt in ein irritierendes Klang- und Sprachrelief werfen sie sich auf und uns auf etwas zurück – um was zu hören im Hören? Das Hören? Um was zu sehen im Sehen? Was passiert da?
Bei aller Gelassenheit: Anders traut den Worten nicht. Aber er vertraut sich ihnen als Zugang zur Welt gleichwohl an — auch wenn dieses voiceover sich dann als Notausgang entpuppt und draußen die Dinge, die Welt gleichgültig sein läßt, stumm, nichts sagend. Fremd ein-, fremd ausgezogen bleibt daher unausweichlich die Erkenntnis der Fremd-Sprachigkeit an sich selbst.
Draußen aber ist dafür (doch wie eine Entsprechung?) die selbstgenügsame Pracht und Fülle der angesprochenen, im Gedicht evozierten Gegenwarten: mit der „Brücke aus Stahlbeton“; „Gärten […] mit Birnen, Mispeln, Aprikosen […] Pfeifengras,/ Fenchel, Königskerze und Mannstreu,/ Malven und Färberdistel“; „arktische Winde“ und „Hitz“; „Quellen“, „Flüsse“ und „Sommertümpel“, „Fitis in Wipfeln/ und Zilpzalp“; „ein Licht wie Kalk/ […] an diesem Nachmittag im Juli“; die „sterbende Katze“.
Anders’ Gedichtband Nachtgesang einer Zitrone ist geprägt von einem großen, lichthellen Gleiten zwischen Ansichten der Außen- und Innenwelten, die manchmal unmerklich ineinander übergehen, ja -fließen und so Bedeutungsschichten freilegen, die eine fortdauernde, von weit herkommende Unruhe sichtbar werden lassen; die zeigen, dass der Sedimentationsprozeß nicht abgeschlossen ist, dass Wahrnehmen und Erkennen ohne Wahl ist, ebenso undurchdringlich wie das daraus in den Moment von Gegenwart resultierende Bewußtsein. Und selbst da immer ein bißchen zu spät.
Es sind oft Winzigkeiten, die in den Gedichten von Klaus Anders dezent Klang- oder besser Nachhallräume öffnen und darin Existenzielles hervortreten, oder besser: still aufscheinen, ja nachschmecken lassen: „[w]as bleibt“. „[...] Wer weiß/ wie viele Träume […] bitter aufgegeben“; endlich, verschüttet und geborgen, in Resten eines ‚Gegrüßet seist du, Maria‘-Gebets an ihr vorläufiges Ziel kommen: „[...] Du/ sitzt im Zimmer, hörst das Summen,/ bittest: jetzt und in jener Stunde.“ So zeigt sich, was Zeit sein könnte, was sich ereignet in unserem Beisein, lebenslang.
Manchmal fordert Anders den Lesenden zu weiten, mäandernd selbstversunkenen Denkbewegungen auf, nimmt ihn mit in seinen Strophen, „Geh hinein, mach die Tür zu!“, führt den Blick dann unvermittelt, unübersetzt auf die 4 mal 5 chinesischen Schriftzeichen eines 1300 Jahre alten Gedichts von Wang Wei aus der Tang-Zeit, bevor sich „ein Bau [...] aus gefrorenem Atem“ und eine „nie zuvor gesehen[e] [Landschaft]“ mit moderner Infrastruktur öffnet — und am Strophenende sich doch nur „Ein lauter Nichts“ findet, „das mich durchströmte, wie ein liebender Blick“. Das 11-strophige Langgedicht „Schnecken, Zikaden“ belauscht sehr genau eine vielgestaltige, vielstimmige Welt in ihren andauernden Übersetzungen; Schnecken- und Zikadengesänge, „eine Musik, die du nicht hörst“ und die der Eintritt ist in „den Kreis, angefüllt/ mit der Kraft der Terpene, des Schweigens“. Das Gedicht schreibt sich mit allen poetischen Sinnen heran an biologische Prozesse des Werdens und Vergehens, an Erinnerungs-flashbacks von Gefängnis und Folter inmitten einer idyllischen mediterranen Waldszenerie, an Waldarbeit, Feuer, Migration, eine von ihrem Verschwinden sprechende Gletscherzunge, einen fernöstlich-bergigen Atemraum, Appenzeller Alpen- oder Albtraum? Robert Walser-Bilder — kurios verschränkte Wachträume, Selbstgespräche, Kindheitserinnerungen?
Aber erwachend hatte ich alles verloren,
es gab keine Frage mehr, keine Antwort.
Am Schuppen Rotschwanz mit knirschender Stimme,
Specht sucht den rissigen Stamm ab.
Mit einer schnörkellosen, scheinbar einfachen, doch bisweilen subtil vertrackten Sprache überrascht der Dichter immer wieder; ob bis ins Verschwinden hineinreichend, so wie „aus dem harten Licht […] ein Schatten,/ den die Nacht aufsaugt“; oder hier und da vergessene Wörter wie „Gebäu“ wieder hervorhebend, die aber durch die Zeit (oder in ihr, diese als Sprache speichernd) etwas bewahren und erinnern, traumhaft in voneinander entlegenste Orte führen. Im Loireschloß Chambord „verlaufen, steigst Treppen, die nicht/ dorthin führen, wohin du willst,/ findest nicht zurück, bist woanders plötzlich [Hervorhebung, A. K.], im/ zentralen Busbahnhof von Tel Aviv, seine Leere/ von Beton umfangen, von Benzingeruch/ erfüllt, durchkreuzt von Treppen.“
Die von Klaus Anders hingetuschten, mit mythischem Bodensatz aufgeladenen Räume entstehen in einem sanften, poetischen Morphing. Mit dem Hinweis auf das frühneuzeitliche, kabbalistisch-mystische Hohlraum- und Lichtkonzept des „Zimzum“ — eines in sich selbst zurück- und zusammengezogenen Schöpfergottes — werfen sie ihr kritisch reflektiertes Streulicht auch auf die poieto-logischen Untergründe und die Frage, ob und inwieweit diese Denkmodelle ihre Tauglichkeit bewahren in einer durch und durch ebenso säkularen wie pseudo-religiös aufgeladenen Gegenwart. Sind diese überhaupt hintergehbar? Anders’ Lyrik schließt häufig an solche spirituellen Erkenntnis- und Weltanschauungsmodelle an, bindet sie jedoch zurück ans Sinnliche, an die alltäglichen Dinge, an die in schillernden Realien verbürgte, fragwürdige Realität.
Kartoffelkäfer ist Kartoffelkäfer,
die Heuschrecke Heuschrecke, sie sind
wie sie waren, bevor ich erwachte.
Ich erwachte, aber hatte nicht geschlafen.
War es Licht ohne Licht?
Nacht ohne Finsternis?
Wandern ohne zu gehen?
Verströmen ohne zu fließen?
Verwehen ganz ohne Wind?
Diese Gedichte wissen um den bild- und bildungsmächtigen Schatz sprachlicher Welterfassung ebenso wie um die inhärente sprachliche Gewalt und Gefahr, ihr Überwältigungspotential. Herabgekühlt auf ein bedächtiges Maß aber wird das Heilig-Nüchterne in seiner Bruchstückhaftigkeit pathosfrei ausbalanciert und in dieser Erdung anschlußfähig an eine über sich selbst ebenso aufgeklärte wie staunensbereite Poetik — und rettet genau dort seine elementare poetische Bildkraft. „[… D]ie Stimmen darin/ nur Zipfel von Wind.“
Und dann, den Band fast abschließend, diese haikugetaktete, vertikale Ewigkeitsvignette: „die Luft seidenblau/ Schwalben, sehr hoch ein Bussard/ erdwärts Amaranth“. So passiert dem Blick womöglich Schönheit. Zuguterletzt als „Binsenweisheit“ nur noch eine in ihre nüchterne Absurdität gekleidete Einsamkeit, die weiß: „[...] niemand wird dir/ danken, daß du einen Pfad gefunden hast, der nirgendwo hinführt“ und die sich doch bis zuletzt die Freiheit alltagsbanaler Fallhöhe erhält: „[...] Da lag sie. Neben einer Leiter, die am Haus lehnte.“ Das „Geschrei von Krähen und Elstern“ als Verheißung.
Der Verleger Frank Wierke möchte seinen Verlag Ginster Press als „poetisches Projekt abseits des Kulturbetriebs“ verstanden wissen. Die Entscheidung, die Bücher als Books on demand zu produzieren, zielt, neben Aspekten ökonomischer Risiko-(und Gewinn-)minimierung und möglicherweise ökologischer Zurückhaltung, auf ein genuines Verlangen bei den Leserïnnen: kein Buch zuviel und jedes einzelne gewollt. Dem editorischen Versuch, poetischem Denken neue Gesprächsräume zu öffnen, ist mit Klaus Anders’ Nachtgesang einer Zitrone zweifellos ein fulminant stiller und klarer Auftakt gelungen!
P.S.: Später zugefallener Nachtrag(-klang) zum Nachtgesang einer Zitrone als Echolot und Echoraum: Ein wenig spooky (was nichts zu sagen hat), aber so ist es - vielleicht folgerichtig zu „Das Nächste Beste“ gehörend - im „Katalog der Hölderlin-Handschriften“ auf Seite 307/75 des „Homburger Folioheft(s), Diachrone Darstellung“ aufscheinend zu sehen und mitzulesen: nahe bei den Versen „Bis zu Schmerzen aber der Nase steig<e>t/ Citronengeruch auf und der Öl, aus der Provence, und wo […]“ steht und steigt und singt „[…]/Ursprünglich aus Korn, nun aber zu gestehen bevestigter Gesang/ als/“, und dann blüht hinzu „von Blumen/ Neue Bildung aus der Stadt.“ Und alles wächst landschaftlich neben- und in- und durch-einander über Seiten (Zeiten) „Heimatlich“, direkt über der „Wildniß“ (S. 307/74), später dann endlich „Der Welt Pracht“ (S.307/78 - https://homburgfolio.wlb-stuttgart.de/handschrift/307-74). Vielstimmig, vieles leicht, fiel es leicht ein, cantus firmus.
Klaus Anders: Nachtgesang einer Zitrone — Gedichte. Ginster Press, Unna 2024. 124 S., 18,— €