Panoptikum des Untergangs

Panoptikum des Untergangs

Zu Einst werden wir Endlinge sein von Elvira Steppacher

Bereits der Titel von Elvira Steppachers kürzlich im Elif Verlag erschienenem Gedicht- und Essayband ist vielschichtig. Einst werden wir Endlinge sein zeigt, wie Zukunft und Vergangenheit zusammenhängen. Es geht darum, welche Weichen wir heute stellen oder längst gestellt haben, um die Zukunft zu gestalten.

„Endling“ ist ein Begriff, den die Zeitschrift Nature für das letzte überlebende Individuum einer Art oder Pflanze vorschlägt.

Das „Einst“ ist bedeutsam für Steppachers Konzept, das von Tierpräparaten und den vormaligen Lebensbedingungen der jeweiligen Tiere handelt, aber auch von der Präparation an sich. Wie aufschlussreich und weitreichend das sein kann, beweist Steppacher an jedem einzelnen der präparierten Körper.

Ebenso wie Einst werden wir Endlinge sein — mit Blick auf die Zukunft — die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpft, kombiniert der Band unterschiedliche literarische Formen mit einem vielfältigen Bildmaterial. Das Cover, von Ihsan Topaloglu gewohnt klug gestaltet, verwendet eine der zahlreich im Buch enthaltenen Fotografien.

Jedes Präparat wird mal durch kurze, konzentrierte Verse, dann wieder durch recht lange Gedichte, Lautmalerei, oder auch dokumentarische und erzählende Lyrik eingeleitet. Die Idee ist immer die gleiche und sie ist bestechend: Präparate zu bedichten und die Dichtung daraufhin mit Fakten anzureichern und zu erläutern.

Auf diese Weise verbindet Steppacher eine besondere Aufmerksamkeit für Artenvielfalt und -reichtum mit der Aufklärung über Mythen und Vorurteile und schärft das Bewusstsein für das Tierreich und für immer noch gut verborgene Ungerechtigkeiten.

Steppacher selbst schreibt dazu: „Auch Gedichte präparieren, stellen aus. Grund genug, der menschlichen Aneignung tierlicher Biografien Raum zu geben.“

Wobei „Gedichte“ eigentlich zu kurz greift, denn Einst werden wir Endlinge sein ist eine Mischung aus Fotoband, Essay, Lyrik — und vor allem ein innovatives Experiment, das demonstriert, wie verschiedene Formen ineinandergreifen können, um auf künstlerisch wertvolle Art dafür zu sensibilisieren, dass alles mit allem zusammenhängt.

Nicht nur die Gedichte, auch die erläuternden Texte sind sprachlich raffiniert. Sie bewahren nicht nur, sondern öffnen Denkräume, indem sie, gut aufbereitet, eine Vielzahl von Informationen bereitstellen.

Neben Medienstars wie Eisbär Knut, Klonschlaf Dolly und Problembär Bruno, widmet sich Steppacher einer Vielzahl von Lebewesen, vom Riesenoktopus bis zum Zwergspaniel. Der namenlose Bär der Familie Mann steht neben unbekannten Wesen der Tiefsee, die Geschichte der Hygiene neben Problemen der Archivierung.

Ausgehend vom Präparat von Jakob, dem schwarzen Vasapapageien Alexander von Humboldts, erzählt Steppacher nicht nur von diesem Gelehrten, sondern informiert die Leserïnnen ebenso über die Herkunft der Rabenpapageien. Dabei wird Kritik an der Haltung dieser Tiere nicht ausgespart: „Noch die spiralig verformten Krallen beweisen: In der Oranienburger Straße gab es keinerlei Abnutzung durch Klettern oder Freiflüge. Die Summa summarum des Großen Jakob lautet: 30 Jahre Hausarrest oder 10.950 Tage Stange.“

Zum Gorilla Bobby, an dessen Fall sich eine Vielzahl von Themen abhandeln lässt, gibt es gleich vier poetische Annäherungen. Steppacher baut dieses Quartett geschickt auf. Da ist zunächst das niedliche Gorillakind, das nichtsahnend und wehrlos in eine sieben Jahre währende Gefangenschaft reist, und dessen Arglosigkeit dichterisch mit den Anfängen des Faschismus verknüpft wird, illustriert durch ein Foto von Bobby als Jungtier in einer Waschschüssel. Darauf folgend, wird dem Präparat des erwachsenen Bobby eine Liste gegenübergestellt, die „Nicht in meinem Namen“ übertitelt ist. Ein Foto des weißen Tuchs, das Bobby besessen und geliebt hat, steht einer lautmalerischen „Affasie“ gegenüber, bevor den Abbildungen unterschiedlicher Präparate von Gorillahänden das Gedicht „Von Hand zu Hand“ folgt, das in den Zeilen mündet:

Dass ein toter Gorilla täuschend echt aussieht,
sein Balg aus Belgisch-Kongo bei uns noch Hand und Fuß hat,
verdankt sich, in extremis, tropischem Paraffin,

ein Erdöl-Gemisch, aus Schrumpfgebieten.
So geben die Kleinsten mal wieder den Größten,
und Totenkopfäffchen reichen Silberrücken die Hand.

Wie Akte einer Tragödie bilden diese Bild-Gedicht-Kombinationen eine Einleitung für das, was Steppacher im Folgenden dann breiter auffächert und ausführt.

Immer wieder überraschen die von ihr hergestellten Verbindungen. Die Tatsache, dass die Pandabärin Chi Chi sich jeglichen Versuchen, Nachkommen in die Gefangenschaft des Zoos zu gebären, erfolgreich widersetzte, führt Steppacher zu Bestandsaufnahmen von Kinderlosigkeit heute und dem Siegeszug der Antibabypille in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Von unterschiedlichen Präparaten ausgehend, illustriert sie einen Querschnitt der Zeitgeschichte, deren jüngster Vertreter vielleicht die Große Hufeisennase ist, jene Fledermausart, die im Verdacht steht, eventuell für das Coronavirus verantwortlich gewesen zu sein.

An einem zeitlich viel weiter zurückliegendem Präparat, dem des „Schwedenschimmels“, arbeitet die Autorin heraus, wie die Zeitläufe sich hier mehrfach eingeschrieben haben. So gibt der Balg des Streitrosses sowohl Auskunft über Militär- und Religionsgeschichte als auch über die Methoden der Präparierung. Was sich hier trocken und vielleicht als nur für Spezialisten von Interesse liest, versteht Steppacher in kenntnisreiche Geschichten zu verwandeln, immer nah am Individuum und dennoch mit kritisch distanziertem Blick. Auch für die Raumfahrt wurden Tiere gequält und missbraucht. Steppacher macht in einem berührenden Gedicht auf die Hunde aufmerksam, die in den Kosmos fliegen mussten oder, wie sie es ausdrückt, „weit hinaus gewagt wurden“. Vom All reist der Band in die Frühzeit der Menschheit, mit Texten zu Mumien, Mumifizierung und, damit einhergehend, zu den Grundlagen der ägyptischen Mythologie. Den Reigen der aufschlussreichen Präparate beschließt Dumbo als „Elefant im Raum“. In diesem Gedicht, „den verdrängten Anteilen“ gewidmet, heißt es:

Seit über 100 Jahren stehst du hier im Raum,
und obwohl dein Körper, Dumbo, gar nicht im Bild ist,
dominierst du das Tierdiorama bei Weitem.

Diesem Fazit folgt noch eine „Moment, Aufnahme“, in der Steppacher ohne Erläuterungen, aber mit einer Anzahl von Hashtags, auf in den sozialen Medien beliebte Tierfotografien referiert.

Einst werden wir Endlinge sein.
OMG, old-fashioned Fanimals!
We love you no end,

So endet der Bilderbogen, der zur Auseinandersetzung mit der Frage einlädt, die Steppacher auch in ihrem zeitgleich erschienenem Künstlerinnenroman aus der Welt der Museen, Blösse, stellt: „Wie reagieren, wenn uns die Natur unter den Händen wegstirbt?“

Elvira Steppacher: Einst werden wir Endlinge sein. Elif Verlag, Nettetal 2024. 200 S., 20,— €

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