Das Leben Anderer
Zu Libro Venado von Cecilia Vicuña
Cecilia Vicuñas neueste Gedichtsammlung ist das zweisprachige (spanisch-englische) Deer Book, in dem sie über eines der wahrscheinlich ältesten Tanzrituale nachdenkt: den Hirschtanz des Yaqui-Volkes (das in Arizona und Sonora in Mexiko lebt). Das Ritual ist ein Zeichen des Respekts und der Danksagung an das Rentier, das die Blumenwelt verlässt, um von den Menschen getötet zu werden, und dadurch den Menschen ihr Leben ermöglicht.
Die chilenische Dichterin, Performancekünstlerin, bildende Künstlerin, Aktivistin und Filmemacherin Cecilia Vicuña arbeitet seit Jahrzehnten mit indigenem Wissen, das sie in ihre Ausstellungen, Zeichnungen und Gedichte einfließen lässt. In Deer Book erforscht sie den Schamanismus und die Poesie noch stärker als in ihren früheren Werken. Im Nachwort erzählt sie, was sie zu dieser Sammlung inspiriert hat und verweist unter anderem auf ihre Begegnung mit Jerome Rothenberg und dessen Arbeit (Jerome Rothenberg: Flower World Variations. Expanded Edition, The Operating System Print, Brooklyn, New York 2017). Seit 1985, dem Jahr, in dem Flower World Variations von Rothenberg erstmals erschien (eine Neuübersetzung von Gedichten aus Carleton S. Wilder: The Yaqui Deer Dance. A Study in Cultural Change [1963]. U.S. G.P.O., Washington, D. C. 1963), hat sie diese Idee mit sich herumgetragen und schließlich auf diese Sammlung hingearbeitet. Hunderte von Gedichten und Zeichnungen entstanden auf dem Weg zu ihrem Deer Book.
Wir können in Deer Book die verschiedenen Techniken finden, die sie über Jahrzehnte entwickelt hat, zum Beispiel eine spezifische Spannung zwischen Bild und Text aufzubauen, indem sie Gedichte einer Zeichnung „einschreibt“. Oft handelt es sich um eine Art linguistischer Analyse, bei der sie versucht, die Bedeutung eines Wortes zu entschlüsseln — mit überraschenden Effekten. Mittels synaktischer Zerlegung und Silbenstudium schafft sie Wortassoziationen, die sie Palabrarmas nennt (eine Wortneuschöpfung auf Spanisch, die so viel wie „Wortwaffen“ bedeutet).
In Abbildung 1 sehen wir das Wortassoziationsspiel um das Wort „flor/flower“, das zu „flow“ als der Wurzel des Wortes „flower“ führt. Dadurch bekommt dieses Wort eine zweite Bedeutung und bezeichnet dasjenige, das „fließt“ (flows). Eine weitere Technik ist die Arbeit mit Synästhesien: Durch neuartige Verbkomposita vermischt Vicuña Sinneserfahrungen, wie zum Beispiel in der ersten Zeile des Gedichts „Harvest of Light“, in der sie das Verb „sehhört“ (seehears) verwendet.
The plant seehears light and weaves a tiny bag,
A little thylakoid sac to store the light.
Diese zusammengesetzten Wörter verdeutlichen, dass die Pflanze auch Sinne hat, diese aber anders einsetzt, als wir Menschen es gewohnt sind.
Außerdem spielen einige ihrer Gedichte mit Aussagen und Zitaten, und es liegt an den Leserïnnen, die jeweilige Bedeutung zu assoziieren und zuzuordnen. Die Kombination von Zitaten von Anthropologïnnen, Naturwissenschaftlerïnnen, Ethnographïnnen und Schriftstellerïnnen zeigt eine Perspektive auf, die über das westliche dualistische Denken hinausgeht und eine indigene Kosmovision beinhaltet. Wir werden zum Beispiel dazu gebracht, Blätter mit Sternen in Verbindung zu bringen.
Com position of life/Com position of light
The leaf is the translator of light.
Chlorophyll is the blood of the plant.
Chlorophyll is a quantum system.
It’s in many states at the same time.
— Seth Lloyd
A leaf of grass is no less than the
Journeywork of the stars.
— Walt Whitman, Song of myself
So appelliert die Dichterin und Künstlerin an unsere Vorstellungskraft und hilft uns, Elemente zu verbinden, die wir bisher als getrennt wahrgenommen haben.
Mit beiden Techniken transzendieren ihre Gedichte die gewöhnliche Bedeutung von Wörtern: entweder führen sie neue Verbindungen ein (ihre ‚Zitat-Assoziationen‘) oder graben sie auf, um zu sehen, was in ihnen steckt, was der Kern ist (ihre ‚Wortwaffen‘). Laut Cecilia Vicuña sind Wörter nicht statisch und isoliert, sondern Teil eines größeren Netzwerks von Menschen und Nicht-Menschen.
[…] language is a living force […]. Language has agency as I perceive it the same way flowers have agency. The agency may be just to persist, just to go on, just to find other speakers, just to find other echoes, other sounds, other music, other vibration. (David Naimon: Cecilia Vicuña, Deerbook, Interview Transcript, in: A Tinhouse. Between the Covers Podcast, Zugriff 17.12.24)
[Language] is a real thing. Are we going to accept that? Because if we do, then immediately an instantaneous respect has to unfold for the notion that we live within all these languages that are exchanging and affecting interconnecting with each other in a wave of life. (Naimon, 1:21:30-1:21:56)
Das bringt uns zu einem der Hauptthemen dieser Sammlung, der Poesie selbst. Im ersten Gedicht, mit dem Cecilia Vicuña das Vorwort „The Animal Poem (pre Face)“ einleitet, wird deutlich, wie ihrer Meinung nach Gedichte entstehen.
The poem
Is the animal
Sinking its mouth
In the stream
[…]
The animal and the stream sing each other into being,
In a state of mind I call trá, „going across“.
Thirst is the thread.
Gedichte entstehen in der Begegnung zwischen Lebewesen, sie leben in der Beziehung ‚zwischen den Sprachen‘. Der „Faden“ (thread), der diese Begegnung möglich macht, ist der „Durst“ (thirst) — eine tiefe Sehnsucht nach Vergnügen, das die Wesen in Bewegung setzt und sie zusammenbringt. Diese Realität, die sie „trá“ nennt, ist ein Gemütszustand, ein Raum, in dem das Gedicht Gestalt annimmt; zunächst in der Sprache der Tiere, später übersetzt von Menschen. Es ist gleichzeitig die Wurzel der Wörter „trans“, „trance“, „translation“, und „transformation“.
Sprachen und Übersetzung sind weitere wichtige Themen in Deer Book. Sprachen sind auch die Sprachen der Tiere und Pflanzen, und Übersetzung ist weiter gefasst als nur die Übertragung der Worte in eine andere Sprache. Für Vicuña, wie auch für Jerome Rothenberg, geht es um Übersetzungen, die der spirituellen Dimension des Hirschtanzes gerecht werden, indem sie ihn rezitieren und vermeiden, Bilder zu Symbolen zu degradieren. Während Rothenberg mit seinen Techniken der ethnopoetischen Übersetzung vor allem darauf abzielt, eine Brücke zwischen der indigenen mündlichen Tradition und der ethnografischen modernen Avantgarde zu schlagen und dem Originaltext so weit wie möglich treu zu bleiben, spiegeln Vicuñas Interpretationen in Deer Book meiner Meinung nach eher die mystischen Welten hinter den Bildern wider. Ein Beispiel ist die Blume im Abschnitt „Sound Flower“, der mit dem Satz „The flower is the ear of the gods“ beginnt. Das könnte man leicht als reine Metapher abtun, aber in anderen Gedichten wie „Flower Autopoesis“ und dem bereits erwähnten Sprachspiel um das Wort Blume deutet sich an, dass es tatsächlich um die Blume geht, die mehr Fähigkeiten hat, als wir wissen. Außerdem geht es auch um einen Geisteszustand, nicht der Menschen, sondern der Blume selbst. Es geht um einen Geisteszustand, wie ihn der Schamane kennt und erlebt.
Die Gedichte von Cecilia Vicuña zeigen eine Perspektive, die in vielerlei Hinsicht im Widerspruch zur westlichen Auffassung von Sprache, Natur und Poesie steht. Das gibt der Sammlung einen aktivistischen Impuls; denn sie zielt auf eine andere Kultur des Umgangs, in der alle Wesen miteinander solidarisch wären und der Zerstörung der Erde Einhalt gebieten würden.
Eine Sammlung, die wir nicht als ‚seltsam‘ abtun sollten, sondern aus der wir etwas lernen und wo wir fündig werden können: dann spricht dieses Material vielleicht zu uns, zeigt, wie beschränkt unser Wissen noch ist.