Eva Maria Leuenberger – Die Spinne
„hier ist der anfang,/ flügchen“, so beginnt das buchlange Gedicht die spinne der Schweizer Dichterin Eva Maria Leuenberger. Ein lyrisches Ich spricht zu einem Du, das wohl als eine Art abgespaltetes lyrisches Ich zu lesen ist. Das Flügchen: Ein kleiner Flug? Ein kleiner Flügel? Ein Fliegchen? Die Deutung bleibt offen, wie manches in diesem sparsam phrasierten und gänzlich in Minuskeln gesetzten Band.
In der Begegnung des lyrischen Du, das als flügchen kleingemacht rücklings auf einer Matraze liegt, mit einer Spinne, die darüber an der Decke ihr Netz webt, spielt sich ein tonloses, aber intensives Kammerspiel ab: „manchmal/ schaust du sie an/ und denkst:/ ich könnte/ mich ergeben.“ Wer jedoch die Spinne entweder nur als Inbegriff des Ekeltiers oder als die tödlich-teuflische Verkörperung des Bösen aus Jeremias Gotthelfs Novelle sieht, der wird Leuenbergers Neubesetzung des achtbeinigen Geschöpfs verpassen.
Das flinke Tierchen ist Teil der Natur, der letzten, die wir noch haben, und der wir auch selbst angehören. Die Spinne totschlagen hieße, mutwillig Natur zerstören. Was freilich gerade der Fall ist: „flügchen: du weißt, dass das blut unter deinen/ fingernägeln klebt“. Die ökologiekritische Thematik, die Leuenberger subtil und umso wirkungsvoller einflicht, taucht in Imaginationen von vertrockneten Bächen, schmelzendem Eis und brennenden Wäldern auf. Und die Selbstkritik macht auch vor der Autorin nicht halt, die weiss, „dass kein gedicht das wasser/ reinigt, kein wort den durst noch löscht“.
Wenn sich die Spinne dann abseilt und flügchen erobert, dann erscheint das nicht als grausiger Racheakt. Vielmehr wird eine sinnliche, natürliche Vereinigung evoziert: „ihre beine/ kitzeln/ auf deiner haut// sie umschliessen dich/ du nimmst/ sie alle/ in dich auf“. Leuenbergers Gedicht ist traumartig und vielschichtig, doch ihre Bilder sind scharf und ihre Verse entschlossen. Der stille und feine Band die spinne ist weniger drastisch und blutig als seine Vorgänger dekarnation und kyung, doch nicht minder eindringlich und lesenswert.
Eva Maria Leuenberger: die spinne. Droschl, Graz 2024. 96 S., 21,— €