Tiefenzeitliche Spuren

Tiefenzeitliche Spuren

Zu Flussland Tagliamento von Esther Kinsky

Der Tagliamento im Nordwesten Italiens ist einer der letzten Wildflüsse Europas. In FlussLand Tagliamento erkundet Esther Kinsky seine Ufergelände und das Flussbett, das in regenarmen Zeiten auf weiten Strecken begehbar ist, beginnend an der Mündung des Flusses in die Adria und endend in seinem Quellgebiet in den friulanischen Dolomiten. In Gedichten und lyrischen Prosabildern hält Kinsky fest, wie die Flusslandschaft zu verschiedenen Tageszeiten und bei wechselnden Witterungen erscheint. Sieht man genau hin, lassen sich dort vielsagende Verweise entdecken, tiefenzeitliche Spuren etwa, Spuren geologischer Prozesse, die sich vor Millionen von Jahren vollzogen, Spuren von Tieren, so den gezackten Abdruck einer Schlange auf einem Sandstreifen, oder auch Spuren von Menschen: Reste von Dörfern und Knochen von Gefallenen des Ersten Weltkriegs, die vom Gewässer zu weißen Kieseln geschliffen wurden. „Wassergeglättet“ sind auch die Hölzer, die bei der Flussenge im Mittellauf umherliegen, sie taugen, wie es heißt, „nur noch als kleines Lesestück über den Umgang der Dinge miteinander“ und weiter: „in aller Gewalt dieses Trachten nach Rundung und Besänftigung und Zweckverlust.“ Die im Gelände verstreuten Formen wahrzunehmen, heißt das Gewesene mitzudenken. „Wie war es vorher?“, fragen die wurzelfesten Gewächse, wenn sich nach einem Hochwasser die Gestalt des Flussbettes im Mittellauf verändert hat; und „wie war es vorher?“, fragt auch Kinsky. Die Namen, Orts- und Pflanzennamen, werden ebenso in den Blick genommen — Namen, mit denen die Menschen ihre Umgebung benannten, um sich über diese zu verständigen. Unwillkürlich keimt beim Lesen die Frage, welche Spuren vom Heute später wohl zu finden sein werden.

Neben den vielen teilweise lesbaren Spuren finden sich im Gelände auch die Zeichen einer „Sprache der Dinge […], so viel älter als ihre Namen“, wie jene Zeichen auf den braunen, rötlichen und grauen Kieseln im Flussbett, mit den „weißen und bläulichen Linien, Schraffuren, Rillen, mit winzigen glitzernden Kristallen als Betonungen und Satzzeichen“. Es bleibt unklar, wieviel von der fremden Sprache verstanden werden kann – etwa von den „dünnen sätzen“, die der Fluss spricht – oder was von diesen Zeichen in menschliche Sprache übersetzbar ist. Manches scheint nicht verstehbar zu sein, zeugt von etwas Eigensinnigem der Natur; immer wieder aber wird versucht, es zu verstehen. Kinskys Texte führen eine Weise des Betrachtens der Natur und des Selbst-Verortens im Gelände vor — mit genauem Blick, fragend, das Fremde anerkennend, immer um ein Verstehen bemüht. Für ihre Naturbetrachtung findet Kinsky neue Wörter, verwendet oft Adjektive, um die Seh- und Höreindrücke in der Landschaft zu fassen. Von ferne sieht man in der Nähe des Meeres „die luftspieglig kluftigen Alpen“, hört „den kiebitzigen rufer“; am Oberlauf sind die Bäume an den Gebirgshängen „windbang“, das Laub der Kletten „müdlippig“. Die Gedichte und lyrischen Prosabilder antworten einander, treiben gleichsam in Wechselrede die vielartigen Aspekte des Wahrgenommenen und der Spurensuche hervor, lassen den Rhythmus der Texte hervortreten. Sie führen, unter Begleitung von 28 Holzschnitten Christian Thanhäusers, den Fluss hinauf, vermitteln sich als „Lesestücke über den Umgang der Dinge miteinander“.

Esther Kinsky: FlussLand Tagliamento. Edition Thanhäuser, Ottensheim/Donau 2020; Friedenauer Presse, Berlin 2023. 90. S., 18,— €

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