Die Vagheit abwägen

Die Vagheit abwägen

Zu Die Goldwaage von Nasima Sophia Razizadeh


Wer immer schon im Licht ist,
kann sich nicht aussetzen.

Mit diesen beiden Versen beginnt das erste Gedicht im Lyrikdebüt von Nasima Sophia Razizadeh und gewissermaßen bilden sie eine Art Programmatik für den gesamten Band, der sich an keine poetischen Mode anlehnt und an vielen Stellen wie aus der Zeit gefallen scheint. Ein mutiges Debüt, mit dem Razizadeh sich hier „aussetzt“. Die Motive von Licht und Dunkelheit durchziehen den ganzen Band: Etwas wächst aus dem Dunkeln oder verschwindet in ihm, Pflanzen, Tiere, ein Du, auch Figuren aus der griechischen Mythologie, vor allem aber die Sprache selbst, die das zentrale Thema der Gedichte ist.

Über 80 Gedichte versammelt Die Goldwaage auf insgesamt fast 140 Seiten. Es sind kurzzeilige Gedichte, die sich über ein bis zwei Seiten erstrecken, oft in langen Sätzen, mit vielen Einschüben. Klangliche Formen wie Assonanzen und Reime und Wiederholungen ganzer Verse oder Versanfänge tragen die Gedichte, die aber an keiner strengen lyrischen Form orientiert sind. Zahlreiche Komposita wie „Muttersprachmilch“ oder „Bohrengel“, Vergleiche und Metaphern durchziehen den ganzen Band. Verschiedene Bildbereiche werden ineinander überblendet, sodass oft eine Vagheit entsteht, die nicht immer bis zum Ende des Gedichtes trägt. Die bei der Lektüre entstehenden Unschärfen werden verstärkt durch die Häufung von abstrakten Begriffen, sodass die Gedichte der sprichwörtlichen Genauigkeit der Goldwaage zumindest im Sinne der poetischen Präzision oft nicht gerecht werden:

Sich in das Vergehende lehnend,
halten die
Augen, im Blick,
halb offen,
dem Bruch
eines unsichtbaren
Versprechens stand,
und den
Blickenden
von seinen Gewohnheiten ab,
und die Intensivierung in die
Extension
in die Ekstase aus.

Bewundernswert dabei bleibt Nasima Sophia Razizadehs sprachliche wie motivische Eigenheit: Diese Gedichte erinnern an keine der lyrischen Stimmen der vergangenen 30 Jahre. Sie hat eine Vorliebe für poetisch wie alltagssprachlich ungebräuchlich gewordene grammatische Wendungen wie den Genitiv oder das Partizip Präsens („wartend“, „wissend“, „leuchtend“, „verkehrend“, „verzweigend“, „fühlend“, „vorübergehend“, „füllend“ — allein diese in dem 21-zeiligen Gedicht „Dein zweigiges Dasein“). Die Gedichte enthalten kaum zeitgenössisches Vokabular, Diskurse oder Gegenstände, die sie in der Gegenwart verorten. Vielmehr halten sie sich an eine überzeitliche Motivik: Fluss, Spur, Traum, Stein, Wüste, Schritt, Gedächtnis, Gang und Wunder. Suchte man nach poetologischen Vorbildern, fände man diese vielleicht am ehesten in der Nachkriegsmoderne.

Insgesamt schreibt Nasima Sophia Razizadeh in ihrem Lyrikdebüt fort, was sie in dem Bändchen Sprache und Meer (Rohstoff/Matthes & Seitz. Berlin 2023) bereits intensiv erkundet hat: ihr Interesse an Herkunft, Möglichkeit, Körperlichkeit und Kraft von Sprache. Dabei bleibt die Sprache für Razizadeh vor allem groß und überwältigend. Deutlich wird dort wie hier, dass ihr wenig an der Konkretion ihrer Aussagen liegt, wohl aber daran, wie sie sich immer wieder wenden lassen und neue Gestalt annehmen können. Nicht immer liegt darin ein Mehrwert, manchmal auch die Tendenz zur Beliebigkeit.

Besonders überzeugend sind so jene Stellen in diesem umfangreichen Gedichtband, an denen die Verse nicht weiterschwimmen, sondern präzise, klar und einfach bleiben, wie in dem Gedicht „Anhalten“:

Geh nicht fort,
Wort,
leise will ich dich
anhalten,
bei mir zu bleiben,
bis mir die Stimme bricht
und die Sprache
zu immer leiserem Staub
zerfällt,
mit dem ich mich und dich
weiß bedecke,
als sei tiefster Winter,
wo ich,
still beinahe,
pausierend, mich
im Unterdunkel
unserer Decknamen
wärmen will:
hier.

Tiefenzeitliche Spuren

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Metamorphosen aus Mush und Mythos

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