Hilferufe aus dem Prokrustesbett der deutschen Syntax
Zu Hans-Ingo Radatz’ Übersetzung von Vicent Andrés Estellés’ Gedichtzyklus Hotel Paris
Der katalanische Dichter Vicent Andrés Estellés (1924-1993) ist hierzulande bis auf eine Sammelausgabe von 1996 ein Unbekannter, weshalb es zunächst einmal begrüßenswert ist, dass die University of Bamberg Press nun einen seiner Gedichtzyklen, das Hotel Paris, anlässlich seines 100. Geburtstags und in einer Übersetzung des Romanisten Hans-Ingo Radatz veröffentlicht hat.
1973 in Katalonien erschienen, erzählen die insgesamt 22 Texte von den Menschen, deren Wege sich in einer billigen Absteige kreuzen. In den Zimmern spielen sich Szenen von Liebe, Eifersucht und Gewalt ab. Mit dem Hotel als zentralem Handlungsort entsteht ein Gesellschaftspanorama, das ein von männlichem Anspruchsdenken geprägtes Spanien gegen Ende der Franco-Diktatur zeigt. Wie Radatz in seinem Vorwort ausführt, wendet Estellés, der als „Filmsüchtiger“ bekannt war, filmische Schnitte auf seinen Zyklus an: Jeder einzelne Teil erzählt eine Geschichte (oder deutet sie an), dann geht es ohne Umschweife zur nächsten Szene weiter, bis das Publikum schließlich einen gesellschaftlichen Mikrokosmos vor Augen hat. Hierfür setzt der Dichter das Valencianische ein, eine damals fast ausschließlich mündlich gebrauchte, dialektale Varietät des Katalanischen. Zu Francos Zeiten wurden die Regionalsprachen Spaniens unterdrückt, denn die Faschisten sahen das Land als eine große Einheit. Wie viele andere Intellektuelle entdeckte Estellés das Valencianische als kulturelles Gegengewicht zum Franquismus und schuf ein Werk, das die linguistischen Überlegungen des Philologen Manuel Sanchis Guarner und die geschichtlich-ideologischen Gedanken des Essayisten Joan Fuster zum Valencianischen als eigenem sprachlich-kulturellem Raum in der Literatur zusammenführte. In diesem Kontext betätigte sich Estellés als Dichter und entdeckte klassische Autoren wie Joanot Martorell neu (dessen Epos Tirant lo Blanch man in Fritz Vogelsangs deutscher Übersetzung lesen kann).
Bei der Übersetzung dieser Gedichte gibt es neben den inhaltlichen Fragen auch metrische Herausforderungen zu beachten, unterscheidet sich das Versmaß in romanischen Sprachen wie dem Katalanischen doch grundlegend von dem der germanischen. Vereinfacht gesagt, werden, anders als im Deutschen, Silben gezählt statt Betonungen. Akzentuierungen sind möglich, etwa durch eine Zäsur in der Versmitte. So kann ein Alexandriner, der im Deutschen aus sechs Jamben, also je nach Kadenz zwölf bis dreizehn Silben mit insgesamt sechs Betonungen besteht, im Katalanischen bis zu vierzehn Silben aufweisen. Hans-Ingo Radatz hat nun Alexandriner gedichtet, die der Formsprache des Ausgangstextes weitestgehend folgen: Für die langsamen, oft mit einem „und“ aneinandergefügten Zeilen braucht es einen längeren Vers als den Acht- oder Zehnsilber. Da bietet sich der Alexandriner an.
Estellés gleicht sich dem Rhythmus der gesprochenen Sprache an, die deutsche Version hingegen liest sich angestrengt. Exemplarisch hierfür ist der vierte Teil des Zyklus:
Aus langsamem Beharren und diskreten Affären,
aus Früchten, die vom Karren hinabfallen und faulen;
wie wer mit seinen Händen die Asche eines Toten
greift und das Maß der Stille zerreibt; aus diesem Warten
entsteht allmählich ein vage ehrwürdger Haufen.
Ich bin ein Schwein. Die Dämmrung fällt hinter blinden Scheiben.
Alle sind fortgegangen und sind in ihren Häusern.
Nur ich hier mache weiter und schreibe langsam Verse,
wer weiß wie oft, von Dingen, die einzigartig sind.
Ein Schluck lauwarmen Wassers, die Spritzer da von Sperma.
Fast nirgendwo ist der Jambus durchgehalten. Einige Beispiele für diese Beobachtung: Keine Zeile fließt, immer rumpelt es irgendwo („entsteht allmählich ein vage…”). Es drängt sich der Eindruck auf, dass Radatz den allein auf der Silben- und nicht auf der Anzahl der Betonungen beruhenden katalanischen Vers nachbilden will, ein Vorhaben, das wegen der nicht vergleichbaren Prosodie des Deutschen zum Scheitern verurteilt ist. Einzig Radatz’ achter Vers geht mit viel Liebe noch als Hommage an Paul Celans Version von Rimbauds Bateau Ivre durch, das die Zäsur der französischen Vorlage zwischen beiden Halbversen durch eine zusätzliche unbetonte Silbe imitiert („Ich bin ein Schwein. Die Dämmrung fällt hinter blinden Scheiben.“).
Derlei Einwände mögen kleinkariert erscheinen, doch das Übersetzungskonzept, wenn es denn überhaupt eins gibt (im Vorwort steht dazu nichts) und das dichterische Resultat sind weder auf der metrischen noch auf der inhaltlichen Ebene funktionstüchtig. Dem renommierten Romanisten Radatz, der bereits als deutsche Stimme des valencianischen Dichters Ausiàs March bekannt ist und daher über ein gewisses Maß an Erfahrung mit der Übersetzung gerade von Versmaßen verfügen sollte, passieren hierbei die erstaunlichsten Anfängerfehler: Er klebt zu sehr am Ausgangstext und scheint zu vergessen, dass die eine Formulierung im Katalanischen zwar gelingen, aber im Deutschen fehl am Platz sein kann. Ein Beispiel hierfür ist der erste Satz des besagten vierten Gedichts: Es wird gezögert; im Hintergrund läuft etwas ab, das geheim bleiben soll (wobei nicht klar ist, ob mit „afers” Geschäfts- oder Liebesangelegenheiten gemeint sind); es folgt ein näher erklärender Wie-Vergleich, dann wird gesagt, dass sich das Zögern, die Affären, zu einem „Haufen“ („muntó“) aufschichten, der als „vage ehrwürd[ig]“ („vagament adorable“) beschrieben wird. In die Alltagssprache übersetzt: Die Szenen im Hotel Paris setzen sich nach und nach zu einem Bild menschlicher Gepflogenheiten zusammen. Im Deutschen können sich Zögern und Affären allerdings nicht „schichten“, das Bild ist schief, weil es Konkretes (den „Haufen“) mit Abstraktem („Beharren“, „Affären“) vermengt, hier wäre eine freiere Lösung gefragt (im Katalanischen hingegen klingt der Satz überhaupt nicht pathetisch). Hinzukommt eine Elision, die selbst Goethe die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte („ehrwürdger Haufen“). Auch das mag wirken wie Kritikasterei, ist aber nicht unerheblich, wenn man bedenkt, dass Estellés seine Verse bewusst in einer allseits verständlichen, wenn auch hin und wieder, wie im vorliegenden Beispiel, etwas vagen, raunenden Alltagssprache hält. Da passen solche Verrenkungen nicht.
Es seien stellvertretend noch einige Stellen genannt, an denen der Ton ziemlich schräg geraten ist: „Senyors, esteu segurs que tractem amb un mort?“, heißt es etwa in Gedicht XIII, in dem ein verstorbener Hotelgast vom Gerichtsmediziner untersucht wird. Man würde nicht meinen, dass das ein Alexandriner ist, so unangestrengt liest sich das. In der deutschen Übersetzung wird daraus: „Ist sicher, meine Herren, dass dies ein Toter ist?“ Während man Estellés’ Satz so auch auf der Straße (oder in der Pathologie) hören könnte, klingt Radatz’ Version nicht einmal ansatzweise natürlich. Neben zu wörtlichen sind auch zu freie Übersetzungen ein Problem. Hierzu noch einmal ein Blick auf Gedicht IV: „He fet mal“ (etwa: „Ich habe Schaden verursacht“). Es ist nicht klar, wem oder unter welchen Umständen, aber Radatz deutet diese Stelle als „Ich bin ein Schwein“.
Während Estellés unklar lässt, welche Art von Vergehen er meint – er könnte sich rein theoretisch auf die Schuldgefühle des Dichters beziehen, der seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird – liest Radatz aus diesen drei Wörtern eine derbe Konnotation heraus, vielleicht in Vorwegnahme auf die „einzigartig[en] Dinge“ am Ende des Gedichts: das Wasser, das Sperma. Und ist schon Estellés’ Duktus nicht getroffen, so gilt das erst recht für komische und dramatische Effekte:
„... und die Frau, die die Zimmer für fieberhafte Pärchen/auskehrt, in dem Hotel, wo man nach Stunden zahlt“, heißt es für „i la dona que agrana les habitacions/del vell hotel per hores i parelles fèbrils“ in Gedicht VII. Zunächst einmal fällt auf, dass das Verb („auskehrt“ für „agrana“) zur Erfüllung ohnehin widersprüchlicher metrischer Regeln (dieser Vers ist ein Trochäus) am Anfang der folgenden Zeile nachklappert. Daher wirkt der über zwei Alexandriner hinweg aufgebaute komische Effekt – da ist eine Frau, die Zimmer putzt, aber, wie man kurz darauf erfährt, nicht nur irgendwelche, sondern in einem Stundenhotel, heißt, sie weiß bestens, wie man mit Körperflüssigkeiten umgeht – viel zu bemüht, vor allem, weil das Verb in der deutschen Fassung nicht dort steht, wo man es erwartet. Estellés hält sich recht nahe an einer katalanischen Syntax, während Radatz wieder einmal zu einer forcierten Lösung greift – und seinen Alexandriner nicht aus Jamben, sondern aus Trochäen zusammensetzt.
Es ist sicherlich eine brillante Idee, übersetzte Literatur über den Verlag einer Universität zu veröffentlichen: Dieses Verfahren hat bereits in den USA Schule gemacht und es wäre wünschenswert, wenn es das auch hier täte, damit auch ‚schwer verkäufliche‘ Literatur wie die Lyrik eine Chance erhält, dann jedoch bitte mit besseren Ergebnissen. Einstweilen muss Hans-Ingo Radatz’ Fassung von Vicent Andrés Estellés als Beispiel dafür herhalten, wie man es lieber nicht macht: Zu oft verbiegt er die deutsche Fassung, damit sie zu den formalen Vorgaben des Ausgangstextes passt. Eine angenehme Lektüre ist das nicht.
Eine ursprüngliche Fassung der Kritik, die einen stärkeren Akzent auf der Analyse der Metrik von Original und Übersetzung legt, findet sich auf www.lyrikkritik.de