Jessica Zuan – Launa da pavagls / Dochtwolle
Aufgewachsen auf 1800 Metern über dem Meeresspiegel in einem Engadiner Bergdörfchen, verbringt Jessica Zuan (*1984) ihr Erwachsenenleben in der Großstadt Barcelona auf Meeresniveau. Ihre Lyrik schreibt sie nach wie vor in ihrer Muttersprache Rätoromanisch, genauer: im Oberengadiner Idiom Puter. Der dritte Band Launa da pavagls von 2023 erscheint nun in einer zweisprachigen Ausgabe Launa da pavagls / Dochtwolle (2025). An die Tendenzen der rätoromanischen Lyriktradition zur Verknappung, zum Klangereignis und zur Auseinandersetzung mit der heimischen Natur und Lebenswelt schließt Zuan durchaus an, doch führt sie die Poesie des Puter auch darüber hinaus, sowohl mit Blick auf die Themen wie die Schreibverfahren.
Mit dem titelgebenden Motiv befassen sich das erste und das letzte Gedicht des Bandes. „Arda / Brenne“ ist einer Wollgrasblume gewidmet. „Flurescha flur escha“, so lautet die erste Zeile, die Übersetzerïnnen gleich verzagen lassen könnte. Zuans Einsatz von Anklängen, Binnenreimen und dergleichen mehr verlangt der Übersetzerin große Findigkeit für kompensatorische Lösungen ab. „Blühe, saure Blume“, übersetzt Claire Hauser Pult und realisiert die markante Repetition kurz später: „Wolken welken im Vorüberziehen.“
Die Wollgrasblume, die in schwammigem Grund gedeiht, trägt bauschige weiße Früchte, die man behutsam pflücken und kämmen, oder auch zerreißen und zerzausen kann. Zuans Gedicht schließt mit einem Verweis auf die traditionelle Praxis, aus den Fruchtfäden in Handarbeit Kerzendochte herzustellen: „Ich flechte einen Docht, Blume, / mit brennenden Händen.“ Das Auftaktgedicht fügt sich in eine Reihe von Gedichten, die sanft, aber nachdrücklich einen wehmütigen Rückblick auf die Kindheit in einer naturnah geprägten Lebenswelt andeuten.
Im Verlauf des Bandes verlässt Zuan die Moore und Weiden und nimmt ihre Leserschaft etwa in den Kreißsaal mit, wo sie eindringliche Bilder für die körperlichen wie auch seelischen Vorgänge des Mutterwerdens findet. Unterwegs am Meer will sie sich treiben lassen und „Wurzeln schlagen in den Wellen“. In formaler Hinsicht sind es kleine Ausflüge in die konkrete Poesie, die den Aufbruchswillen der Dichterin unterstreichen.
Zum Schluss des Bandes erheben die „Wollgräser“ ihre Köpfe zu einer Reprise, doch diesmal in einer tristeren Harmonisierung. „Abgetrennte Köpfe. / Hängende Wolken“, so erscheinen sie nun dem lyrischen Ich, dann wiederum als verwendbare „Dochtwolle“ oder als „samtweiches Kissen“, vielgestaltig also, in einer Balance von zarten und finsteren Metaphern. Von einem Postkarten-Idyll ist das weit entfernt. Mit dem Motiv einer flüchtigen handschriftlichen Botschaft schließt indessen das Gedicht und zugleich der Band. Denn, „wer weiss“, ist am Ende alles nur ein irgendwo aufgeschnappter Name, „den ich gelesen habe, / mit Bleistift geschrieben auf die Rückseite eines Gemäldes“?