Aus dem Riss geschrieben
Zu Chronik des eigenen Atems von Serhij Zhadan
„Kann ich jetzt vielleicht anfangen?“ Die drängende Ungeduld, die in dieser Frage enthalten ist, eröffnet den Band Chronik des eigenen Atems. 50 und 1 Gedicht von Serhii Zhadan, einer der bekanntesten und prägendsten literarischen Stimmen der Ukraine. Wieso diese Ungeduld gleich zu Beginn? Oder ist es eher ein Zweifel, der sich vergewissern will, ob ein Schreiben noch möglich ist, noch möglich sein kann in diesen „finsteren Zeiten“, um Bertolt Brecht zu paraphrasieren? Schon in diesem allerersten Gedicht lässt sich auch eine moralische Frage nach dem Sinn und Unsinn von Dichtung angesichts der herannahenden und dann um sich greifenden Gewalt und Zerstörung erkennen. Doch die Frage macht die Antwort im Grunde hinfällig; denn die Frage ist bereits der Anfang, das Schreiben geht weiter, auch im Krieg.
Der vollumfängliche Angriff Russlands auf die Ukraine markiert die Mitte des Bandes, reißt ihn und die Zeit entzwei in ein Vorher und Nachher. Exakt fünfundzwanzig Gedichte für die Zeit davor, Teil eins, fünfundzwanzig für die Zeit danach, Teil zwei. Alle Gedichte sind datiert und chronologisch geordnet. Das früheste Gedicht ist vom März 2021, das letzte vom Juni 2023. Das macht diesen Band auch zu einem Zeugnis des Krieges und seiner Vorankündigungen in der Sprache. Der starren zeitlichen Ordnung folgt einzig das allererste Gedicht nicht, das den beiden Teilen vorangestellt ist und die anfängliche Frage beinhaltet. Es steht solitär, folgt nicht der Logik der Zweiteilung. Darin hört das lyrische Ich „den nahenden Schnee“, der nachträglich auch metaphorisch für die drohende russische Gewalt und eine Homogenisierung gelesen werden kann:
das Erstarren, mit dem
die östliche Landschaft sich vorbereitet,
die lästige Schwere des Weiß anzunehmen, den Strahl
der Verkahlung. (08.12.21)
Während diese Schneemassen sich auf das Lebendige legen, erlebt das lyrische Ich die Schönheit von Stimme, Licht und Gesang:
als Erster preise ich den Kegel des verblassenden Lichts,
das Buntglas des Gedichts, durch das die schrägen Strahlen der Stimme
fallen, Abglanz des Gesangs, Flimmern des Atems.
Zhadan ist Autor zahlreicher Romane, Gedichtbände und Essays sowie Musiker, Aktivist und seit April 2024 Teil der ukrainischen Nationalgarde, wo er für militärisch-zivile Kommunikation tätig ist. Den Gedichtband hat er in der Ukraine noch davor veröffentlicht. Als er vor zwei Jahren in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels überreicht bekam, fragte Sasha Marianna Salzmann in der Laudatio, ob und wie Poesie Frieden stiften könne? Das könne sie natürlich nicht, so Salzmann, aber sie könne einen „inneren Frieden“ zumindest in kurzen Momenten herstellen, indem sie ein Aufatmen bewirke. Gerade darin liege Zhadans „verführerische Energie“, dass er nämlich immer im Dialog mit Menschen schreibe, bei und mit ihnen sei: „Er schreibt und spricht sozusagen aus deren Lunge heraus. In Zhadans Poesie holt die ukrainische Gesellschaft Luft. Und nicht nur die ukrainische.“
Auch dieser Band geht — insbesondere im ersten Teil — hinaus in die Stadt, nimmt Gespräche auf zwischen ihren Bewohnerïnnen, betrachtet die Landschaft und den Himmel über ihr, der auch bereits Titelgeber eines Tagebuchs in Prosa von Zhadan war („Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg“, 2022). Bei alldem ist der Atem oder vielmehr das Atmen zentrales Motiv auch dieser Chronik in Versen — er verbindet die sonst verstümmelte Zeit, die zerstückelten Momente, verknüpft Vergangenheit, Gegenwart und die mögliche Zukunft miteinander. Er strukturiert in seiner gleichmäßigen Wiederholung die Folge von Ereignissen, gibt ein Metrum vor, ein Gefühl für die Zeitlichkeit, die auch angesichts der Ereignisse das Fortleben sichert und damit die Treue zu Tradition genauso in sich trägt wie den unbedingten Wunsch nach Fortleben. Der Atem bezeugt schließlich das (Über-)Leben, ist hörbar auch im Schweigen, vor allem aber ist er der Anfang von Klang, Stimme, Gesang und von Sprache. Ihr ist der Gedichtband gewidmet.
Der ukrainische Titel des Bandes, Skrypnykivka, macht dies noch deutlicher: Er bezieht sich auf den Begründer der ukrainischen Orthografie, Mykola Skrypnyk, wie Zhadan in seinem Nachwort schreibt. Das Buch sollte eigentlich, so der Autor, eine „Erzählung über die Sprache“ werden, „über ihre Möglichkeiten und ihre Hilflosigkeit“. Der Band war geplant und wurde begonnen vor dem 24. Februar 2022, doch nach dieser Zäsur „klingt Poesie irgendwie unangebracht“, so Zhadan weiter. Vier Monate dauerte es dann, bis das erste Gedicht nach der russischen Invasion Eingang in den Band fand. Doch die Sprache findet ihre Bestimmtheit wieder, wenn auch eingeschränkt und den Zweifel immer mitdenkend. „Vielleicht sollte ich genau jetzt beginnen.// Sosehr ich mir auch sage, dass nicht die Zeit ist“ (15.06.22), beginnt das erste Gedicht im zweiten Teil. Die leitenden Motive des Bandes sind also geblieben und werden in den Gedichten vor und nach der Zäsur in immer neuen Variationen abgetastet. Der Übersetzung von Claudia Dathe ist es zu verdanken, dass dieser Band nun in einer melodiösen, rhythmischen und bildreichen Übersetzung auch im Deutschen vorliegt.
Der erste Teil beginnt noch wie ein lyrisches Manifest, in dem ein Vertrauen in die Sprache für die Gegenwart beansprucht wird: „es ist Zeit, neue Gedichte zu schreiben:/ bei den alten Gedichten weint keiner mehr.“ Und weiter:
Lass uns die Dinge von Neuem reimen,
lass uns den Geheimissen Klang geben.
Alle brauchen neue Dichter,
alle brauchen einen, der Unfug redet.
Unser tiefer Glaube liegt im Klingen.
unsere Sprache ist leise, gewöhnlich.
Sie hängt am Atem und am Gaumen.
Unwiederbringlichkeit. Ungeduld. (29.03.21)
Die Dringlichkeit der Benennung, des Findens einer neuen Sprache in der und für die Gegenwart dominiert diesen ersten Teil. Die Sprache gibt dabei Halt, ist aber gleichsam zart und beweglich: „Die einzige Chance — sich an den Zweig der Stimme zu klammern.// Darüber hinaus wird es nichts geben. Niemand wird dich an deinem Schweigen wiedererkennen.“ (21.04.2021) Sie behauptet sich immer wieder gegen eine Vereinnahmung, stellt sich gegen die „Verkahlung“, auch wenn der Dichter teilweise nur mühsam den „Raum des Schweigens“ vernäht (04.06.2021).
Die Erfahrungen von physischen und psychischen Verwundungen durch Gewalt und Krieg, der ja bereits seit 2014 im Osten des Landes herrscht, bricht auch im ersten Teil immer wieder ein, auch wenn das Wort „Krieg“ nur ein einziges Mal im vorletzten Gedicht des Bandes fällt. Die oben beschriebene Gewissheit über den Sinn von Dichtung angesichts der Brutalität, die sich auch in der Geschichte der ukrainischen Sprache und Kultur bzw. dem Versuch ihrer Auslöschung zeigt, ist dabei nicht allgegenwärtig in dem Band. Es haben häufig auch Zweifel und Stille einen Platz darin, etwa wenn dem Schmerz und erzwungenem Abschied Raum gegeben wird — Abschiede im Tod oder von Menschen, die ihr altes Leben am Bahnhof zurücklassen, um in der Flucht mehr Sicherheit zu suchen.
Obwohl die Gedichte klanglich wohlgeformt und reizvoll sind, sind sie kein poetischer Selbstzweck. Die Sprache als Politikum scheint mehr zu sein als reiner Sprachrausch: „Wieder verteidigt man sich mit einem Gedicht“ (21.01.22), heißt es da beispielsweise, wohlgemerkt drei Tage vor dem Riss. Die Unterdrückung der ukrainischen Kultur und Sprache ist schließlich keine Erscheinung dieses Jahrhunderts, sondern hat eine lange, traurige Geschichte, die ebenfalls der Literatursprache eingeschrieben ist. Allein in den 1930er Jahren wurden hunderte Schriftsteller in der sogenannten „erschossenen Wiedergeburt“ exekutiert. Dieser Kontext ist nicht unwichtig, um auch die Widerständigkeit der Sprache in Zhadans Band zu sehen und die starke Solidarisierung mit dem gesellschaftlichen Wir zu verstehen:
Ein Gefühl, als schließe sich alljährlich
Mitte November
der Wald um die Dichter —
der Wald der Erschießungskommandos,
der Wald der Todeskandidaten, die in den Taschen
Lettern bergen wie Krümel des gestrigen Brots. (27.11.22)
Die Sprache erinnert auch an diese Schriftstellerïnnen, Autorïnnen, Intellektuellen; sie knüpfen an und weben weiter an der Sprache, für die so viele ihr Leben ließen. Poesie auch als ars memoriae.
Bürde wie auch Kraft zieht diese Sprache und ihre Metaphorik damit aus der Erinnerung, was im zweiten Teil des Bandes besonders deutlich hervortritt, z. B. aus intertextuellen Anspielungen: Die einzigen beiden betitelten Gedichte des Bandes sind nach Schriftstellern benannt — Bertolt Brecht, auf den bereits anfangs Bezug genommen wurde, und Bruno Schulz. Gerade in dem Gedicht „Schulz. Psalmen“, das den Namen des galizischen Autors und Malers polnisch-jüdischer Herkunft trägt, setzt sich Zhadan mit den vielleicht schwierigsten Fragen der Zukunft auseinander. So fragt das lyrische Ich: „Wie soll ich nach dem Erklingen der Tischlieder von Mördern/ eine Partitur der Vergebung schreiben?“ (95) Es ist eines der wenigen Gedichte, in dem Wut einen Ausdruck findet, und es ist bezeichnend, dass diese Wut sich nicht direkt auf die Gegenwart bezieht, sondern nur in dieser historischen Brechung mit Schulz’ Gegenwart während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg ausdrückbar wird. Im letzten Teil dieses vierteiligen Gedichts wendet sich die Erbitterung wiederum in menschliche Zuneigung: „Auch wenn es nicht um Liebe geht — es geht trotzdem um Liebe.“ (14.03.23)
Liebe und Zärtlichkeit, das sind zentrale Begriffe gerade des zweiten Teils. Dessen Gedichte sprechen noch klarer die Menschen „des Grenzlandes“ an, wie man den Namen der Ukraine auch ins Deutsche übersetzen kann. Sie trösten und drücken den Schmerz aus, der für viele andere andernfalls womöglich unaussprechlich wäre. Diese Gedichte sind selbst „Mutzeichen“ wie diejenigen der ukrainischen Dichterïnnen, die bereits „verstummt und abgetreten“ sind (22.12.21), die aber ein Reifen der Sprache hinterlassen haben. Damit sind sie aber auch universelles Zeugnis von liebender Widerständigkeit und einer Unbedingtheit im Ertasten von Sprache und ihren Möglichkeiten in dieser gewaltvollen Gegenwart, weit über „das Grenzland“ hinaus.
Der Riss, der das Buch zerteilt, trennt alles Erlebte in ein Davor und Danach, und es scheint, dass alle Fragen und Motive, die bereits vor dem 24. Februar 2022 in den Gedichten auftauchen, ein kleines Stück verschoben worden sind. Ein anderes Wahrnehmen, auch ein geschärftes Sehen stellt sich ein, ein entschiedeneres Fühlen:
Und etwas wird unbedingt zum Ausgleich gegeben, wenn so viel genommen wird. […]
Schmerz und Hoffnung geben dir das verlorene Gefühl für diese Welt zurück. Sie beleben den Klumpen deines Seins, geben ihm Sinn.
[…] wer sonst hätte dir
das Sehen einstellen, es stimmen können
wie einen Flügel, damit das Auge nicht fehlgeht. (06.07.22)
Aus dem Begriffspaar Schmerz und Hoffnung wachsen neue Gedichte in den Riss hinein oder vielleicht eher aus dem Riss heraus. Die Gedichte tragen manchmal die „Handschrift der Erschöpfung“, rufen aber dabei dazu auf, zur Stimme zu kommen: „Möge es Gesang sein, möge es nicht Klage sein.“ Sie fragen sich, uns — und zweifeln: „Wer kann all diesen Schnee erwärmen?“ (29.12.22) Doch sie kapitulieren nicht.
Die „Chronik des eigenen Atems“ ringt um Sprache wie um die Luft zum Atmen. Sie stemmt sich gegen den „Zerfall der Sprache, Mechanik des Verstummens“ (11.08.21), gegen das Schweigen und flicht es dennoch demütig und erinnernd in die Sprache ein. Diese Dichtung hält die anderen und sich am eigenen Atem fest, der zu Klang wird, zu Gesang, der einen kurzen Moment des Aufatmens schafft.