„wir Einräumigen / wir Verkammerten“

„wir Einräumigen / wir Verkammerten“

Zu geHÄUSe. Zwölf Schleifen zwischen Zellen und Clouds von Johann Reißer und Ursula Seeger

geHÄUSe. Zwölf Schleifen zwischen Zellen und Clouds, heißen die „lyrisch-grafischen Berlin-Konglomerate“ von Johann Reißer und Ursula Seeger. Die 2024 im vauvau-verlag erschienene Sammlung vereint Fotografien, grafisch gestaltete Collagen, Monoprints, Sammlungen von Recherchematerialien und (teils visuelle) Gedichte.

Ein Blick ins Grimmsche Wörterbuch offenbart die erstaunlich facettenreiche semantische Geschichte des Wortes Gehäuse. Es war zunächst sowohl als Substantiv als auch als Adjektiv gebräuchlich; konnte einerseits „mitwohnend, in demselben hause“ bedeuten, andererseits eine Gesamtheit von Hausbewohnern, später auch eine Gesamtheit von Häusern bezeichnen („und geschach groszer schaden in dem jahr an früchten, wein und geheus“, heißt es z. B. in einer Wetterchronik aus dem 17. Jhdt.).

Die Bedeutungsdimension von Gehäusen als „wohnungen der thiere“ ist im Grimmschen Wörterbuch eigens verzeichnet, ebenso die Bedeutung als „Schutzbehälter“, die bis ins 14. Jhdt. zurückreicht: Ein Gehäuse kann Uhrwerke und Werkzeuge, als „Kerngehäuse“ aber auch die Samen einer Frucht schützen. Ein Untereintrag trägt den wundersamen Titel „vom körper als dem behälter des geistes, mechanisch gedacht“. Interessant sind auch adjektivische Derivate wie gehäusig (definiert als „mit Gehäuse umgeben“) und ungehiuse (definiert als „hauslos“) – als ließe sich mit dem Wort und seinen Derivaten eine ganze existentielle Spannweite von „eingeschlossen“ bis „schutzlos“ formulieren.[i]

Dieses Geflecht aus sozialen, architektonischen, natürlichen und metaphorischen Ebenen bildet den Resonanzraum für geHÄUSe. Zwölf Schleifen zwischen Zellen und Clouds. Etwa fünf Jahre lang haben Ursula Seeger und Johann Reißer für dieses Projekt recherchiert und an der Ausarbeitung des Bandes gearbeitet. Sie nahmen die Natur- und Architekturgeschichte der Stadt Berlin in den Blick, um anhand dieses ganz spezifischen Raums nach Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen menschlichen, menschengemachten und nichtmenschlichen Gehäusen zu fragen.

Der Aufbau des Bandes ist relativ klar: Den zwölf Kapiteln sind jeweils zwei Stichworte zugeordnet, die sich sowohl auf menschliche als auch auf nicht-menschliche Architekturen beziehen lassen; sie heißen etwa „Zellen / Kerne“, „Putz / Masken“, oder „Blasen / Wolken“. Jedem Kapitel ist ein im Monoprintverfahren entstandenes, kachelartiges Objekt zugeordnet, das an einen archäologischen Fund erinnert:

Die Kapitel beginnen jeweils mit einem die Titelstichworte umkreisenden poetischen Notat, das, von einem Interrogativ- oder Pronominaladverb eingeleitet, eine Art „Vorschau“ auf das Kapitel geben soll. So heißt es etwa zu Beginn des ersten Kapitels („Zellen / Kerne“):

Womit sich unsere Gehäuse begründen : sich absondern vom
Außen, Räume erzeugen : mit Wänden und Membranen, mit
Türen, Fenstern, Poren : verfugt, verschlossen, halbdurchlässig :
als Grundlegung : womit unsere Einhausung beginnt :

Darauf folgt das jeweilige Kapitel mit Gedichten, die teils klassisch in Verse und Strophen gesetzt, teils visuell (etwa als Figurengedichte) gestaltet sind – ergänzt durch grafische Kompositionen, Fotografien und Fotocollagen. In einigen Fällen ist der Text direkt in die Bildcollagen integriert. Jedem Kapitel ist eine Art Anhang mit dem Titel „Nachlese / Sedimente“ nachgestellt, in dem Fakten und Konzepte erläutert werden, die einen Recherchehintergrund für die Gedichte bilden. Die kurzen Essays auf diesen Seiten sind jeweils mit einem Seitenverweis versehen, jedoch oft mit Begriffen überschrieben, die in den Gedichten selbst nicht explizit vorkommen. Der Anspruch der Autorïnnen, verschiedene, auch historische, Perspektiven auf Berliner Gehäuse zu eröffnen, in denen sich natur- und kulturwissenschaftliche Aspekte verschränken, zeigt sich in diesen Materialien besonders deutlich.
Am Ende des Bandes befindet sich sowohl ein Verzeichnis der im Band vorkommenden „Gebäude, Komplexe und Areale“ als auch eines der „Lebewesen und Baumeister“.

Das Material, das in diesen relativ stabilen konzeptuellen Rahmen hineingetragen wird, ist äußerst heterogen: Begriffssammlungen und (teils fiktive) Stammbäume oder Taxonomien (etwa von Möbelarten und Stuckwesen) reihen sich an Figurengedichte, gekippte und gedrehte Elemente erfordern ein ständiges, ganz haptisches Wechseln der Leserichtung. Neben immer wieder auch in klassische Verse gesetzten Gedichten finden sich Seiten, auf denen die Verse und Strophen so verteilt sind, dass sie frei miteinander kombinierbar werden, außerdem ein Erasure- und ein Codegedicht. Der graphische Teil des Bandes, der mit dem textlichen verschlungen ist, versammelt u. a. kartographisches Material, (historische) Fotografien von Gebäuden und Detailaufnahmen von natürlichen Strukturen. Bei letzteren erscheint mir besonders interessant, dass sie teilweise eine geradezu unheimliche Dimension annehmen – als fände die von Sigmund Freud formulierte Beobachtung, dass das Wort „heimlich“ (eben auch: „zum Hause gehörig“) in einer bestimmten semantischen Facette mit der Bedeutung des Wortes „unheimlich“ zusammenfällt, hier ein anschauliches Beispiel.[ii]

Das als Textsubjekt präsente „wir“ bleibt fluide und kann an einigen Stellen als „wir Menschen“, an anderen als „wir Menschen und Tiere“, größtenteils aber als „wir organischen und anorganischen Strukturen“ gelesen werden; in dieser Bedeutung wird es auch in einer doppelseitigen, mit „wir Häuser / wir Körper“ überschriebenen Begriffssammlung im 1. Kapitel eingeführt. Ein wenig wie ein roter Faden zieht sich eine als „unser Haus“ bezeichnete Figur durch den Text, die zwischen Materialität und Imagination oszilliert. Dieses „Haus“ erscheint mal als passive Figur, in der sich äußere Umstände niederschlagen, mal als etwas, das vom „wir“ des Textes geformt wird:

In unser Haus bauen wir ein Haus,
und in dieses ein Bild von einem Haus,
das auf ein anderes blickt.

Oft jedoch erscheint das „Haus“ als ein Objekt mit eigenem Willen, das sich nicht festlegen oder einfangen lässt – auf einer der letzten Seiten des Bandes, in dem Kapitel „Blasen / Wolken“, heißt es etwa:

Unser Haus will anders werden.
Es will sich lösen, will schweben.
Von Steinen, Erde ganz befreit
will unser Haus Wolke werden,
ein Heer von Vektoren und Faktoren,
von Zahlen und Rotationen,
eine Formation von Prognosen.

Was mich an dem Band beeindruckt, sind die Materialfülle und die Vielzahl der Perspektiven, die auf die Frage eingenommen werden, wie sich verschiedene Gehäuse zueinander verhalten. Ausgangspunkt für das Projekt, erzählt Johann Reißer in einem Vortrag im Rahmen eines Symposiums des Vereins Berliner Künstler, war ein Besuch des Kalksteinbruchs in Rüdersdorf bei Berlin.[iii] Kalkstein, erfahren wir in dem Kapitel „Schichten / Lagen“, ist der Hauptbestandteil von Beton und entsteht durch die Ablagerung von kalkhaltigen Überresten mariner Organismen wie Muscheln und Schnecken über geologische Zeiträume. Diese Ablagerungen verfestigen sich zu Gestein, das dann für die Zementherstellung abgebaut und zu Beton weiterverarbeitet wird. Ein Großteil des in Berlin verbauten Betons enthält Rüdersdorfer Kalk. Die in diesem Beispiel aufscheinenden Verschränkungen von alten und jungen, natürlichen und kulturellen, großen und kleinen Gehäusen markieren eine der zentralen Spuren, denen Reißer und Seeger in ihrem Band folgen. Der mit „Muscheln und Brand“ überschriebene Kurzessay, der Informationen zum Kalksteinbruch in Rüdersdorf und dessen Verbindung zu Berliner Bauten liefert, ist zugleich ein Beispiel für die Art der Texte, die den einzelnen Kapiteln im Rahmen der Materialsammlungen nachgestellt sind.

Diese kurzen informativen Texte finden das Poetische in konkreten realen Begebenheiten und den Fachsprachen verschiedener Disziplinen: So wird etwa angeführt, dass die vermutlich vor 3,5 Milliarden Jahren existierenden Vorläufer allen heutigen Lebens die Fähigkeit besaßen, sich mit einer schützenden Hülle vor ungünstigen Umwelteinflüssen zu wappnen; dass Steine und Blöcke, die auf Wiesen oder Äckern liegen und keine Verbindung zum anstehenden Gestein haben, „Lesesteine“ genannt werden; oder dass die zwei Borkenkäferarten, die Fichten in Deutschland befallen, „Buchdrucker“ und „Kupferstecher“ heißen. Gerade die sich auf konkrete Orte in Berlin beziehenden Texte scheinen sich manchmal wie Einträge eines Reiseführers zu lesen und auch als solche verwenden zu lassen.

Während die Recherchematerialien verlässlich und faktisch wirken, zeigt sich im Hauptteil der Kapitel eine Lust am Erfinden und Spekulieren, ein Spiel mit den Grenzen von Fakt und Fiktion sowie das Vermischen visuellen und terminologischen Materials aus der Wissenschaft mit Material aus anderen Kontexten. So schleichen sich Neologismen wie „wir Verkammerten“ oder „wir Fensteräugigen“ in zunächst sehr fachsprachlich anmutende Begriffssammlungen, und ein „Stammbaum der Möbel“ aus dem 19. Jhdt. wird in die Gegenwart weitergesponnen. Dabei wird neben einem „Smartbett“ als Nachkomme des „Bettes“ auch ein „Staatssekretär“ als Nachkomme des „Sekretärs“ genannt. Ein Beispiel für die Störung einer klassifikatorischen Ordnung auf graphischer Ebene ist das folgende kartographische Raster, das über einen mit Flechte bedeckten Stein gelegt wurde:

Die hier eingesetzten Verfahren stehen in der Tradition eines Denkens, das im Anthropozän die Destabilisierung von Blickregimen und Erkenntnisordnungen für notwendig hält. Während eine solche Destabilisierung eines der zentralen Anliegen des Bandes zu sein scheint, stellt sich mir bei einigen Gedichten die Frage, ob sich in das an sich bewegliche „Gehäuse“ des Bandes auch eine Sehnsucht nach Festigkeit eingeschlichen hat – eine Sehnsucht, die sich mal in einem subtilen moralischen Unterton, mal in der Verwendung relativ allgemeiner Begriffe äußert und mich manchmal ein wenig ratlos zurücklässt. So beginnt etwa das Gedicht „Ausbreitungen“ aus dem Kapitel „Verbände / Matten“:

Hier ein Kern, dort hinten: weitere.
Verschiedene Arten des Wachsens,
die auseinanderstreben,
tastend in mögliche Richtungen,
sich modulieren in eigene Formen.

Rhythmen verschieben,
schweben, verbinden sich
unter Pochen und Puckern,
Hämmern und Vibrieren.

Neben dem schillernden Recherchematerial gelesen, wirkt das fast überraschend träge. An einigen Stellen frage ich mich, ob eine engere Verzahnung von Recherche und lyrischem Text nicht zu einer intensiveren Durchdringung hätte führen, die Membran zwischen Informationen und künstlerischer Verarbeitung noch durchlässiger hätte sein können. Je intensiver die Gedichte mit ihrem Bezugsmaterial arbeiten, etwa in Form der fiktiv erweiterten Begriffssammlungen oder dem Erasure-Gedicht, desto stärker affiziert ihre Ästhetik. Die Überlegungen, die sich hier anschließen, lassen sich, so glaube ich, in den Kontext breiterer Fragen zur Dokumentation einer künstlerischen Forschung stellen:
Wie lassen sich Erkenntnisse aus Rechercheprozessen in literarischen Texten so verarbeiten, dass weder der Eigensinn der Sprache verloren geht noch der künstlerische Zugang bloß illustrierend wirkt? Wie können künstlerische und recherchebasierte Elemente so verbunden werden, dass sie nicht jeweils gänzlich unterschiedliche Rezeptionsmodi erfordern? Diese Fragen kommen jedoch keineswegs bei allen Texten des Bandes auf, und sie erscheinen mir weniger als ein Makel denn als ein Anlass zum Weiterdenken. geHÄUSe ist eine Einladung, der ontologischen Grundkonstante der Kammern und Hüllen, aus denen „wir uns“ zusammensetzen und die „uns“ umgeben, mehr Beachtung zu schenken. Dabei faltet der Band unzählige ineinander verschachtelte Räume auf, sodass die Lektüre auch immer wieder eine subtile Verschiebung im Blick auf die Welt bewirkt.

Johann Reißer und Ursula Seeger: geHÄUSe. Zwölf Schleifen zwischen Zellen und Clouds. Gestaltet von Ursula Seeger und Johann Reißer mit Unterstützung von Alexandra Schepelmann. vauvau-verlag, Berlin 2024. 256 S., Hardcover mit Prägedruck, 37,50,– €.


Anmerkungen:

[i] Vgl. die Einträge „GEHAUS, gehause, gehäuse“, „GEHÄUSE, gehäus“ und „GEHÄUSIG“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, Wörterbuchnetz, zuletzt abgerufen am 31.03.2025. Das Material ist hier stark gerafft dargestellt, ich bitte dadurch entstandene Unschärfen zu entschuldigen.

[ii] Vgl. Sigmund Freud, „Das Unheimliche“, in: ders.: Gesammelte Werke, hrsg. v. Anna Freud u. a., Bd. 12, 3. Auflage, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1966, S. 229-268.

[iii] Johann Reißer, „Shells and loops – on human and more than human architecture”, Vortrag im Rahmen des Symposiums Augmented Realities in the Anthropocene am 9. November 2024 im Verein Berliner Künstler, (108) Symposium Artistic Research (3/8) Shells and Loops "geHäuse" Dr. Johann Reißer - YouTube, zuletzt abgerufen am 31.03.2025.

 

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